Ein seltsames Phänomen. Ein Mensch, der sich selbst als politisch Linker bezeichnet, beklagt den angeblichen Rechtsruck in der Gesellschaft und führt Beispiele an: eine „wachsende Ausländerfeindlichkeit“, eine „wachsende soziale Kälte“, eine „wachsende Schere zwischen Arm und Reich“ und so weiter – das ganze Wortkarussell linker Parteien eben. Man spricht noch über dieses und jenes, es wird spät.
In den Abendstunden kommt man auf einen Vorfall in der Nachbarschaft zu sprechen, bei dem eine junge Türkin aufgrund ihres Lebenswandels von ihrer Familie ermordet wurde. Die Augen meines Gegenübers werden schmal, wir kommen auf die Islamisierung des Viertels zu sprechen. Und was nun der Linke sagt, kann ich hier nicht wiedergeben. Nur soviel: es klang nicht links im landläufigen Sinne.
Dieses Phänomen habe ich immer wieder und wieder erlebt. Menschen, die mit politischen Phrasen den Alltag bestreiten, wirklich in diesen Phrasen leben, aber doch in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld ganz anders handeln und denken. Man kann heute wirklich ein Wähler der Linkspartei sein und gleichzeitig Ansichten vertreten, die dem Parteiprogramm der Linkspartei völlig entgegenstehen.
Überkommene politische Begriffe sind unbrauchbar geworden
Worin liegt diese offenkundige Schizophrenie begründet? Weil unsere Lebensverhältnisse abstrakt geworden sind. So ungeheuer abstrakt, daß sie nicht mehr von den überkommenen politischen Begriffen erfaßt werden. Wir verwenden diese lediglich so, als wenn wir das noch könnten. Tatsächlich haben sich diese Begriffe aber mit der Zeit abgenutzt und sind heute weitestgehend unbrauchbar.
Die Rechte und die Linke – früher haben diese Begriffe tatsächlich eine Lebenswirklichkeit beschrieben. Denn damals war der Mensch in der Gesellschaft wesentlich in Gruppen organisiert. Wähler wie Abgeordnete hatten eine gemeinsame Lebenswelt. Es saß daher im Parlament nicht nur der Abgeordnete einer Partei, sondern eines Teils der Gesellschaft mit eigenen Werten, mit einer spezifischen Weltanschauung.
Der Konservative lebte eine bestimmte soziale Idee, die sich in seinem Umfeld reflektierte. Er war damit ein Teil der sozialen Wirklichkeit, die sich im Parlament widerspiegelte. Gleiches galt für den Liberalen und den Sozialdemokraten. In dem Maße aber, wie diese Form gesellschaftlicher Organisation niederging und durch abstrakte Beziehungen ersetzt wurde, zersetzten sich auch die Parteien und mit ihnen die politischen Begriffe.
„Volksparteien“ ohne Volk als Maschinen der Abstraktion
Es war in der Folgezeit immer schwerer zu erfassen, was eigentlich „die Rechte“ oder „die Linke“ sei, da die klar konstituierenden, sozialen Gruppen fehlten. „Volksparteien“ ohne Volk entstanden, die mit keiner dahinterstehenden Lebenswirklichkeit zu Maschinen der Abstraktion wurden. So inhaltlich entleert wurde „rechts“ und „links“ zu rein manichäischen Phrasen von dem schlechthin Bösen und Guten.
Dies ist die Situation der gegenwärtigen Gesellschaft: wir haben eine Ansammlung von Menschen, die sich in einem abstrakten Beziehungsgeflecht befinden, ohne daß sie sich angemessene politische Begriffe gebildet haben. Entweder sie verzichten gänzlich darauf, was die Ursache für die um sich greifende politische Desinteressiertheit ist. Oder aber sie orientieren sich an dem abstrahierten Schema der Vergangenheit.
Aber dieses Schema taugt nicht mehr zur Beschreibung der Wirklichkeit. Denn was soll das heute sein, „links“ oder „rechts“? Ich kann beispielsweise mit Argumenten aus einer „linken Position“ genauso gut einen starken Staat fordern, wie ihn ablehnen. Das gleiche kann ich auch aus einer „rechten Position“ heraus vertreten. Es sind einfach Abstraktionen geworden, mit denen man alles machen kann. Vor allem Menschen gegeneinander aufhetzen.
Die Lösung kann nur darin bestehen, sich politische Begriffe zu bilden, welche das abstrakte Beziehungsgeflecht der Gegenwart aufheben und zu einer neuen, konkreten Anschauung der Lebenswirklichkeit führen. In diesen Begriffen mag „die Rechte“ und „die Linke“ wieder enthalten sein, aber sie sind dann aufgehoben im Sinne Georg Wilhelm Friedrich Hegels: im Sinne einer Steigerung.