Phänomenal, daß de jure eine Demokratie existiert, die von ihren gewählten Funktionären als Wert an sich selbst hochgehalten wird, die aber immer weniger Bürger interessiert oder angeht, weil immer mehr der Voraussetzungen, darin schöpferisch zu handeln, entbehren oder ihnen diese Grunderfordernisse egal sind: kritischer Individualismus, Bildung, also Mündigkeit, ebenso Urteilsvermögen und die Courage, für eigene Urteile konsequent handelnd einzustehen.
Am Wahlakt selbst sind immer weniger beteiligt, weil sie den Eindruck haben, entweder nicht gehört zu werden oder guten Gewissens niemandem ihre Stimme geben zu können. Getragen wird diese Demokratie noch von jenen, die sich gemäß Max Webers „Politik als Beruf“ darin versorgen – mit dem Selbstwertgefühl, nötig, wichtig und nützlich zu sein, mit einem Einkommen und mit den Ausweisen von Macht und Luxus.
Demokratieferne Reservationen mit Transferleistungen
Gerade im Osten führten die Kreisgebietsreformen zu monströs riesigen Landkreisen, die die Demokratie dort, wo sie mal herkam, nämlich von unten, gar nicht mehr erlebbar machen. Und Berlin ist fern, Brüssel als exekutiver Kommissionsbetrieb aber nicht demokratisch. Wo immer mehr Menschen im Zustand sozialer und vor allem kultureller Ausgeschlossenheit leben, wo immer mehr in Reservationen mit Transferleistungen alimentiert werden, damit sie noch zu dem taugen, was heute den kümmerlichen Rest von Bürgerlichkeit ausmacht, nämlich Konsument zu sein, um wenigstens noch für „Wachstum“ zu sorgen, dort darf gefragt werden, wann endlich – mit Albert Camus – die Revolte beginnt?
„Was ist der Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der nein sagt. Aber wenn er ablehnt, verzichtet er doch nicht, er ist auch ein Mensch der ja sagt aus erster Regung heraus. (…) Was ist der Inhalt dieses ‚Nein’? Es bedeutet zum Beispiel: ‚das dauert schon zu lange’, ‚bis hierhin und nicht weiter’, ‚sie gehen zu weit’ und auch ‚es gibt eine Grenze, die sie nicht überschreiten werden’.“
Sediertheit der politischen Mitte
Wo eine Bundesregierung es sich leisten konnte, einem Lügner und Betrüger Ministerämter anzudienen und ihn darin um beinahe jeden Preis halten zu wollen, bevor er dann verspätet nach einer Tragikomödie der Peinlichkeiten und Beschämungen zurücktrat, ist beispielsweise eine Grenze überschritten, die Empörung auslösen müßte. Aber das Gegenteil war der Fall. Die Massen jubelten, jetzt betrauern sie einen Publikumsliebling, der noch bei seinem Abgang die Afghanistan-Gefallenen für sich zu instrumentalisieren versuchte!
Das Andersensche Märchen von des Kaisers neuen Kleidern erfüllt sich in der politischen Realität der Bundesrepublik, und im Beifall wird das Kind nicht gehört, das auf die Nacktheit des Kaisers verweist. Wann, fragt man sich, endet eine Sediertheit, die die hauptstädtische „Politik der Mitte“, die Bild-Zeitung und die Privatsender mit ihrer klebrigen Werbung und der dümmlichen Anbiederei ans Publikum – „Ich bin doch nicht blöd!“ – übers Land legen? Wann solidarisieren sich kritische Wachheit, Intellektualität und so etwas wie ein gesunder Rest von Volksempfinden gegen eine Farce, die nur jenen nützt, die ihre eigenen Kleinlichkeiten und Besitzstände reproduzieren?
Guttenberg geht – die Fragen bleiben
Guttenberg wird nun wohl doch nicht inthronisiert, aber weiter von einer Mehrheit beklatscht. Vielleicht mehr denn je. Wer keinen Kanzler abgibt, taugt immer noch zum Märtyrer, den die böse Presse runtergeschrieben und die pingelige Geisteselite fertiggemacht hat. Und wer weiß? Könnten die Massen akklamierend entscheiden, dann würde der Freiherr eher heute als morgen Regierungschef. Und weiter? Bleibt es bei der Mogelpackung Euro in Gestalt der europäischen Transferunion? Geht es mit der verantwortungslosen, dafür aber haftungsfreien Finanzpolitik so weiter: privatisierte Gewinne, sozialisierte Verluste? Leistet sich das Land weiterhin entwürdigende Billigarbeit für viele und anderseits das Abitur light für fast alle? Kann die Nation weiterexistieren ohne ein ideelles Zentrum und ohne Inspiration? Wird es dabei bleiben, daß der Schein immer vorm Sein kommt, was gut aussieht, aber unweigerlich zu selbst bereiteten Enttäuschungen und Frustrationsdruck führt?
Albert Camus: „In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Von der Bewegung der Revolte ausgehend, wird es ihm bewußt, kollektiver Natur zu sein; es ist das Abenteuer aller. Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist demnach, zu erkennen, daß er diese Befremdung mit allen Menschen teilt (…). Das Übel, das ein einzelner erlitt, wird zu kollektiven Pest. In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das ‚Cogito’ auf dem Gebiet des Denkens: sie ist die erste Selbstverständlichkeit.“