Heute feiert die orthodoxe Christenheit Weihnachten. Zwei Stunden lang übertrug das russische Fernsehen am Mittwoch zur besten Sendezeit den Hauptgottesdienst aus der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale.
Zelebriert wurde die mehrstündige Zeremonie vom russisch-orthodoxen Kirchenoberhaupt Patriarch Kyrill, und wie zu allen christlichen Hochfesten nahmen die Spitzen von Staat und Gesellschaft, voran Präsident Medwedjew und Ministerpräsident Putin, mit ihren Ehefrauen an dem Gottesdienst teil.
Die Christ-Erlöser-Kathedrale ist eines der imposantesten Bauwerke Moskaus. Über hundert Meter hoch, in Form eines 85 Meter breiten gleichseitigen Kreuzes errichtet, weist ihr Innenraum unter der dreißig Meter breiten Zentralkuppel eine Deckenhöhe von 79 Metern auf und bietet rund zehntausend Gläubigen Platz.
In ihrem Keller findet eine ganze, 1996 erbaute Kirche Platz, dazu eine Reihe von Festsälen und Versammlungsräumen. Allein der gewaltige Ikonostas – die Bilderwand, die in orthodoxen Kirchen das Kirchenschiff vom Altarraum trennt – übersteigt mit 27 Metern die Traufhöhe Berliner Großstadthäuser um volle fünf Meter.
Machtvolle Manifestation orthodox-christlichen Selbstbewußtseins
Mit einem umbauten Raum von 524.000 Kubikmetern gilt die Christ-Erlöser-Kathedrale als größte russisch-orthodoxe Kirche der Welt. Die Fresken im Innenraum – noch ein Superlativ – nehmen eine Fläche von 22.000 Quadratmetern ein. Doch am erstaunlichsten ist, daß diese machtvolle Manifestation orthodox-christlichen Selbstbewußtseins, die in ihrem verschwenderischen Gold- und Bilderglanz den Prunk der Zarenzeit evoziert, erst zwischen 1995 und 2000 errichtet wurde.
Wiedererrichtet, um präzise zu sein. 1931 hatte Stalin die Kathedrale, die von 1832 bis 1883 zum Gedenken an den Sieg über Napoleon erbaut worden war, sprengen lassen, um an ihrer Stelle ein „Haus der Sowjets“ errichten zu lassen. Das kam wegen statischer Probleme über die Baugrube nicht hinaus, in der bis zum Ende der Sowjetunion schließlich ein 13.000 qm großes Freibad Platz fand.
In dem Maße, wie während der Perestroika die russisch-orthodoxe Kirche wieder erstarkte, wurde bereits in den Achtzigern der Ruf nach Rückgängigmachung dieser Profanierung laut. 1990 bildete sich eine Bürgerinitiative, die Spenden für den Wiederaufbau der Kathedrale zu sammeln begann – durchaus eine Parallele zur Rekonstruktion der Dresdener Frauenkirche. 1992, hier beginnen die Unterschiede, ließ Präsident Jelzin eine Wiedererrichtungsstiftung schaffen, die bei Organisationen und Privatpersonen 170 Millionen Dollar Spendengelder sammelte.
Daß die neue Christ-Erlöser-Kathedrale wie ihr Original wieder zum Zentrum des religiösen Lebens in Rußland wurde und dabei von ranghohen Politikern gern als Bühne genutzt wird, hängt zweifellos mit der besonderen Position zusammen, die Rußland Orthodoxie von jeher eingenommen hat. In ihren Kathedralen zelebriert die russisch-orthodoxe Kirche, damals wie heute, die Einheit von Staat, Volk und Religion und Rußlands imperialen Machtanspruch.
Eine problematische Vergangenheit?
Kaum zufällig wurde von 1996 bis 2006 in Königsberg eine verkleinerte Ausgabe der Christ-Erlöser-Kathedrale auf dem alten Hansaplatz vor dem Nordbahnhof, dem heutigen „Platz des Sieges“, errichtet und im Beisein Präsident Putins eingeweiht. Das „Haus der Sowjets“, das ursprünglich auf dem Gelände des gesprengten preußischen Königsschlosses entstehen sollte, wurde übrigens – noch eine Parallele – wiederum aus statischen Gründen auch niemals fertig.
In der Moskauer Kathedrale feierten Zar und Patriarch 1912 den hundertsten Jahrestag des Triumphes über die Franzosen und 1913 das dreihundertjährige Thronjubiläum der Romanows. Eine problematische Vergangenheit, die als Argument gegen den kostspieligen detailgetreuen Wiederaufbau ins Feld geführt worden wäre?
Kein Gedanke. Wie selbstverständlich eignet sich Rußland nach dem Ende des Kommunismus die verschütteten Traditionslinien früherer Größe wieder an. In der neuen Erlöserkathedrale wurde 2007 Rußlands erster Präsident Boris Jelzin feierlich ausgesegnet.
Vergleicht man die staatspolitische Leistung, die hinter der in kurzer Zeit vollbrachten Wiedererrichtung der Christ-Erlöser-Kathedrale steht, mit den unwürdigen Eiertänzen, dem verlogenen und verbogenen Provinzialismus und den faulen Kompromissen, die das Ringen um die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses oder der Leipziger Paulinerkirche begleitet haben und noch begleiten, mag man erahnen, daß Deutschland von Rußland durchaus etwas lernen kann: Nämlich wie Staatsmacht und Volk in gemeinsamer Anstrengung nach der Überwindung von totalitären Diktaturen die Brüche der Nationalgeschichte wieder heilen können.