In diesen Tagen wird viel über den israelischen Historiker Shlomo Sand gesprochen, der vor einiger Zeit ein Buch mit einer provokanten These veröffentlicht hat, das jetzt auch auf deutsch vorliegt: Das jüdische Volk sei erfunden, die gängigen Vorstellungen über Exodus oder Vertreibung durch die Römer seien falsch, eine jüdische Abstammungsgemeinschaft gebe es nicht.
Das sind Sands Thesen, und das allein wäre schon ein Aufreger, aber so richtig erfolgreich wird Sands Auftritt erst durch seine politische Botschaft, die er frei Haus mitliefert. Das zionistische Israel habe seiner Meinung nach in dieser Form kein Existenzrecht und solle sich in einen Staat verwandeln, der alle auf seinem Boden lebenden ethnischen und religiösen Gruppen als gleichberechtigte Bürger betrachtet.
Nun ist Shlomo Sand nicht der erste Historiker, der in die Rolle des politisierenden Besserwissers schlüpft. Blickt man sich in Deutschland in der Zunft um, könnte man dies geradezu für eine Berufskrankheit halten, die die Arbeit der Historiker notwendig begleitet, besonders wenn sie sich mit Zeitgeschichte beschäftigen.
Identität begründen
An sich ist bekannt, daß der Schluß von Sein auf Sollen ein naturalistischer Fehlschluß ist. Das hindert weder die Historiker noch das ihnen oft begeistert folgende Publikum daran, eben genau diesen Schluß vom vergangenen Sein auf künftiges politisches Sollen ständig zu vollziehen, gerne auch begleitet vom moralischen Gestus.
Selbst wenn man die – unzutreffende – Annahme akzeptiert, es würde sich aus Geschichte etwas im Sinn einer konkreten politischen Handlungsanweisung lernen lassen, wird hier eine Sicherheit des historischen Urteils in Anspruch genommen, die es bei genauem Hinsehen selten oder nie gibt.
Mythische Überlieferungen beispielsweise gehören zu den Dingen, die Identität begründen. Ob bestimmte Ereignisse nun stattgefunden haben, muß von der Geschichtswissenschaft ermittelt werden. Das ist ihre Aufgabe, an der sie oft genug scheitert.
Internationale Rechtsstandards
Für die Begründung von Volksüberlieferung und letztlich von Völkern ist jedoch nicht nur wichtig, ob und was tatsächlich stattgefunden hat, sondern welches Ereignis aus den vergangenen Überlieferungen von den Menschen in den Mittelpunkt gerückt wurde und dort geblieben ist. Dieser Vorgang läßt sich nicht als willkürliche „Erfindung“ bezeichnen, denn die Wertschätzung von Überlieferung ist nicht auf Dauer zu erzwingen oder zu manipulieren.
In der gemeinsamen Wertschätzung einer vorgestellten und überlieferten Vergangenheit drückt sich neben vielen anderen Elementen das aus, was man als Volk bezeichnet und was natürlich nie eine absolute, aber doch auch eine Abstammungsgemeinschaft darstellt.
Das zweifellos exzentrische zionistische Projekt eines Staates für das jüdische Volk beruht auf einer so entstandenen Gemeinschaft und läßt sich aus etlichen Gründen befürworten oder auch ablehnen. Die Feststellung, daß sich der zionistische Staat an internationale Rechtsstandards halten sollte, hängt jedoch nicht vom Nachweis ab, ob Moses das Wasser geteilt hat oder nicht.