Liest man ihren Namen zum ersten Mal, glaubt man eine Silbe übersprungen zu haben. Allzu ähnlich ist „Anna Karina“ mit dem der legendären Tolstoi-Heldin „Anna Karenina“ (1877). Aber Anna Karina ist keine Fiktion, sondern ein sehr realer Körper mit Ausdruck und Charisma. Die Schauspielerin kam am 22. September 1940 als Hanne Karen Blarke Bayer in Kopenhagen zur Welt und beging somit vergangene Woche ihren 70. Geburtstag.
Die Frühwerke ihres Ex-Mannes Jean-Luc Godard sind untrennbar an ihre Präsenz gebunden; Anna Karinas Abbild scheint unauslöschlich aufs Zelluloid zahlreicher Klassikern gerettet, darunter: „Le petit soldat“ (Der kleine Soldat, 1960), „Une femme est une femme“ (Eine Frau ist eine Frau, 1961), „Vivre sa vie“ (Die Geschichte der Nana S., 1962), „Pierrot le Fou“ (Elf Uhr nachts, 1965) oder „Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution“ (Lemmy Caution gegen Alpha 60, 1966).
Sie sprach, sang, trank, ballerte, stritt, liebte oder flüchtete zwischen „irrationalen Schnitten“ (G. Deleuze), Zitatmaschinen und bizarren Tonmischungen des Nouvelle vague – Regisseurs Godard: ein Glamourstar des Experimentalkinos. Nur, all das gehört in tiefste Vergangenheit. „Es ist sehr ungerecht, daß Frauen altern“, heißt es in einem dieser Streifen. Und genau diese Ungerechtigkeit ist ihr widerfahren. Zwar filmt sie noch, aber ihr Mythos sank zur puren Nostalgie. Schlimmer noch: In zehn Jahren wird sie das Durchschnittsalter erreicht haben. Wenn sie Glück hat, werden’s noch ein paar mehr.
„Es ist sehr ungerecht, daß Menschen sterben“
Und dann? „Es ist sehr ungerecht, daß Menschen sterben“, ließe sich hinzufügen. Zuletzt bleiben nur Bilder, die aber nichts mehr abbilden. Schon jetzt ist die Anna Karina der sechziger Jahre „tot“. Seltsam, daß der Mensch im Angesicht solch unerbittlichen Schicksals nicht verzweifelt – abgesehen von einigen Ausnahmen: Vor 245 Jahren protestierte Voltaire im Namen der Vernunft gegen das Erdbeben von Lissabon. Auch nach der Aufklärung, nach Hegels Postulat einer weltbeherrschenden Vernunft, haben wir allen Grund zum „Protest“ gegen das Altern, gegen den Tod.
Zufällig erschien vergangene Woche auch das letzte Interview mit – ausgerechnet! – Leo Tolstoi. Anlaß war dessen 100. Todestag. „Häßlich und schrecklich ist der Tod nur auf den Gemälden unserer Künstler. Hier, in unseren Dörfern, kleidet er sich in Formen von majestätischer Einfachheit, ja beinahe der Freude“, behauptete der greise Dichter.
Für die Dorfbewohner sei der Tod „vor allem eine Befreiung; sie empfinden keinerlei Furcht. Einem Menschen, dem der Tod naht, erscheint er als Ruhe und Frieden, als Traum und ein Ausruhen, das die Tage der Sorgen und des Kummers beendet.“ Aber wer möchte ein Leben, in dem der Tod als Befreier kommt? Wer mag die Freiheit von Todesangst durch unerträgliches Mühsal erkaufen?
„Datenspeicher Gottes“
Alles, was vom Menschen (in der materiellen) Welt bleibt, sind die Bilder, ist das Kino. Nicht die Bilder auf Zelluloid oder im Datenspeicher, auch das ist schnell vergängliches Material. Im 19. Jahrhundert erkannte Felix Eberty, daß das Licht visuelle Informationen „speichert“ und durchs All trägt. Auf dem Mond sieht man das irdische Geschehen nach einer Minute, solange braucht das Licht dorthin. In 50 Lichtjahren Entfernung ließe sich jetzt die junge Anna Karina von 1960 beobachten, nach 2.000 Lichtjahren der Erdenwandel von Jesus Christus, und die Bewohner einer Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie sehen die Erde von Sauriern bewohnt.
So ist das All ein Kino, ein riesiger „Datenspeicher Gottes“, der alles enthält, was je von der Sonne beschienen wurde. Durch endlose Finsternis rasen Bilder mit Lichtgeschwindigkeit. Sollten Aliens sie tatsächlich sehen, was könnten sie „denken“ oder gar „sagen“? Wie könnte ein Requiem auf die Menschheit aussehen, verfaßt von einem Nicht-Menschen? Eine mögliche Antwort bot der Informatik-Pionier Ray Kurzweil, als er vor Jahren einen „Cybernetic Poet“, einen dichtenden Computer kreierte. Der schrieb ein Mini-Requiem auf die Menschheit: „Und das Leben weint aus einem blutenden Herzen von Ästen, (…) denn es weiß, daß wir dagewesen sind.“