Stolz posiert die verschleierte Fürsorgeempfängerin vor einem nagelneuen Riesen-Flachbildschirmfernseher in ihrer vom Steuerzahler finanzierten Sozialwohnung. Nein, das ist keine Illustration zur Westerwelle-induzierten deutschen Sozialstaatsdebatte: Dieses Foto entstand im zu „Greater London“ gehörenden Middlesex-Städtchen Harrow.
Die Szene wäre weiter nichts Besonderes, hätte nicht die auf dem Foto sichtlich triumphierende 34Jahre alte Somalierin Nimco Hassan Ibrahim, alleinerziehende und arbeitslose Mutter von vier minderjährigen Kindern, soeben ein Urteil mit Dammbruch-Qualität vor dem Europäischen Gerichtshof erstritten (EuGH C-310/08).
Obwohl nämlich ihr Ehemann, ein Äthiopier mit dänischer Staatsbürgerschaft, nur acht Monate in Großbritannien gearbeitet und nach Auslaufen der Sozialhilfe das Land verlassen hatte und die Frau nach britischer Rechtsauffassung selbst kein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich besitzt, muß die Gemeinde ihr nunmehr ebenfalls Fürsorge bezahlen (bisher hatte sie „nur“ Leistungen für ihre Kinder erhalten) und auf Staatskosten ein Haus zur Verfügung stellen.
Psychisch krank durch Ausweisungsdrohung?
Die übergangsweise zur Verfügung gestellte Unterkunft, hatte die Somalierin geklagt, sei zu klein für ihren fünfköpfigen Haushalt, und die ständige Ausweisungsdrohung habe sie psychisch krank gemacht. Jetzt könne sie endlich „ihr Leben genießen“, zitiert das Boulevardblatt Daily Mail die in ihrer Anspruchshaltung offenbar von keinerlei Skrupel angekränkelte Dame. Finanziert hat den Musterprozeß übrigens eine britische Wohlfahrtsorganisation.
Die Begründung der Luxemburger Richter ist blankes Dynamit für die Sozialsysteme der europäischen Nationalstaaten. „Ein Elternteil, der die elterliche Sorge für ein Kind eines Wanderarbeitnehmers wahrnimmt, das im Aufnahmemitgliedstaat seine Ausbildung fortsetzt, hat ein Recht auf Aufenthalt in diesem Staat“, argumentiert der EuGH.
Artikel 12 der Verordnung über Arbeitnehmerfreizügigkeit von 1968 regelt, daß Kinder von Unionsbürgern, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat arbeiten, dort vollen Zugang zum Schul- und Ausbildungswesen haben müssen. Bereits 2002 hat der EuGH im „Baumbast-Urteil“ (C-413/99) entschieden, daß diese Kinder dadurch ein unabhängiges Aufenthaltsrecht erwerben, das weiterbesteht, auch wenn der Wanderarbeitnehmer den betreffenden EU-Mitgliedstaat wieder verlassen hat.
Umfassende Niederlassungsrechte und Sozialhilfeansprüche
Das jetzt ergangene „Ibrahim-Urteil“ streicht nun auch noch die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeitsrichtlinie von 2004, die die alte Verordnung von 1968 dahingehend abgeändert hatte, daß Familienangehörige nur dann ein Niederlassungsrecht erwerben können, wenn sie Arbeitnehmer oder Studenten sind oder über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügen, so daß sie keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen.
Das heißt im Klartext: Jeder, der als EU-Bürger (Eingebürgerte natürlich inklusive) einmal kurzzeitig in einem anderen EU-Staat gearbeitet hat, erwirbt dadurch in diesem Mitgliedsland umfassende Niederlassungsrechte und Sozialhilfeansprüche für seine Familie.
Britische Behörden befürchten nun, daß hunderttausende arbeitslose Ausländer, insbesondere Polen und Osteuropäer, die kurzzeitig in Großbritannien gearbeitet haben, unter Berufung auf dieses Urteil ebenfalls Sozialhilfe und Sozialunterkünfte verlangen könnten. Finanziell dürfte der britischen Regierung die seinerzeit nicht zuletzt volkspädagogisch motivierte sofortige Totalöffnung des Arbeitsmarktes für die neu beigetretenen EU-Mitgliedstaaten noch leid tun.
Profiteure der Sozialindustrie
In Berlin sollte man diesen Präzedenzfall aufmerksam studieren. Denn schon in wenigen Jahren laufen die Übergangsfristen aus, die bisher noch eine Beschränkung des Zuzugs von Arbeitnehmern aus den ost- und südosteuropäischen Beitrittsländern nach Deutschland zugelassen haben.
Das Ibrahim-Urteil demonstriert nicht nur, wie die Profiteure der Sozialindustrie zu jedem Mittel greifen und notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, um ihre Klientel und damit ihren Einflußbereich weiter auszudehnen; es belegt auch, daß der EuGH nach wie vor jede Gelegenheit nutzt, um die Souveränität der Mitgliedstaaten systematisch auszuhöhlen.
Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat Sozialstaatlichkeit und Sozialrecht ausdrücklich zum nicht übertragbaren nationalen Recht erklärt. Das Ibrahim-Urteil reiht sich dagegen nahtlos in die Rechtsprechungspraxis des EuGH ein, die nationale Sozialstaatsgestaltung auf dem Umweg über andere Rechtsfelder auszuhebeln und zu enteignen.
Mal sehen, ob unser großer Sozialstaatsreformer und Außenminister Guido Westerwelle auch dazu etwas zu sagen hat.