Normalerweise halte ich es mit Nietzsche: Ohne Geschichtsbewußtsein sinkt man zum blöde blinzelnden, letzten Menschen herab, doch zuviel davon drückt einen ebenfalls nieder. Auch halte ich es mit dem Ausspruch: Kommt Zeit, vergeht Unrat! Andererseits fällt in unserer schnellebigen Zeit viel zu viel unter den Tisch, das es verdient hat, aufgehoben und in seiner Bedeutung erkannt zu werden. So eine Kostbarkeit stellt der am 9. Februar in der Berliner Zeitung veröffentliche Kommentar „Dresden und Auschwitz“ des Historikers und Publizisten Götz Aly dar.
Aly schreibt: „Am Morgen des 13. Februar war der Deportationsbefehl an die letzten 70 Juden Dresdens ergangen. Sofern sie die kommende Nacht überlebten, brachte ihnen der Feuersturm ‚Errettung, denn im allgemeinen Chaos konnte er der Gestapo entkommen‘. So sagte es einer der Geretteten, Victor Klemperer. (…) Der Dank dafür geht auch an den britischen Luftmarschall Sir Arthur Harris. Er befehligte den Luftkrieg gegen Deutschland. Eine Rose auf sein Grab.“ An anderer Stelle: „Die Mörder stammten aus allen Schichten der deutschen Gesellschaft. Weil sie im Inneren auf so wenig Widerstand stießen, mußte ihnen das Handwerk von außen gelegt, mußten die Deutschen von sich selbst befreit werden.“
Abstammung von einem mittleren NS-Funktionär
Legt man die von Aly genannten Zahlen für Dresden zu Grunde, dann wären das mehr als 300 tote „Arier“ pro gerettetem Juden. Doch die Rechnung, die der Buchhalter des Todes hier aufmacht, hat einige Unbekannte. Er schreibt ja selbst: „Sofern sie (die Juden) die kommende Nacht überlebten.“ Wer weiß denn, wieviele von ihnen durch britische und amerikanische Bomben ebenfalls zu Tode kamen? Und wer weiß, wieviele noch in der Dresdner Innenstadt von „arischen“ Mitbürgern versteckt gehalten wurden, mit denen sie nun gemeinsam starben? In Wirklichkeit weiß Aly besser als die meisten, die sich äußern, daß bei der Kalkulation des Bombenkriegs die Judenverfolgung keine Rolle spielte. Bei seinem Kollegen Jörg Friedrich kann er nachlesen, daß Winston Churchill bereits im Ersten Weltkrieg Pläne für Bombenangriffe auf Berlin schmiedete, die 1919 stattfinden sollten.
Doch genug der Leichenfledderei. Werfen wir einen Blick auf die ubiquitären deutschen Mörder. Bestimmte Formulierungen in diesem Kommentar und in anderen Texten von Aly legen nahe, daß ihn seine Abstammung von einem mittleren NS-Funktionär anhaltend bedrückt. Ernst Aly, Jahrgang 1912, wirkte ab 1936 in kaufmännischer Funktion am Heimbau der Hitlerjugend im Gau Saarpfalz mit, trat 1937 in die NSDAP ein. Als ganz junger Mann verfügte er bereits über Sekretärin, Dienstwagen und Chauffeur – ein überdurchschnittlicher NS-Gewinnler zweifellos.
Will sagen: Es sind endlich wissenschaftliche Untersuchungen darüber nötig, in welchem Umfang, welcher Qualität, mit was für Motiven und Ergebnissen die Kinder und Nachkommen mehr oder weniger hochrangiger Nationalsozialisten die Politik, die Geschichts- und Meinungsbildung in der Bundesrepublik Deutschland geprägt haben. Zu denken ist an Politiker, Journalisten, Lehrstuhlinhaber, Verlagsleiter, Direktoren von Gedenkstätten und so weiter. Man staunt ja immer wieder, auf was für Namen und Zusammenhänge man bei genauerem Hinsehen stößt.
Antifaschistisch gewandet
Der israelische Psychologe Dan Bar-On hat sich in den achtziger Jahren intensiv mit diesen Nachkommen beschäftigt und die unterschiedlichsten Beschädigungen diagnostiziert. Da ist es schon beinahe erheiternd, in seinem Buch „Die Last des Schweigens“ nachzulesen, wie zum Beispiel Martin Bormann – der Sohn des stiernackigen Hitler-Sekretärs – sich nach einer Gesprächstherapie als Teil der Aufklärungs-Avantgarde über den Nationalsozialismus fühlt und daraus neues Selbstbewußtsein schöpft.
Es wäre lohnend nachzuprüfen, ob nicht gerade bei den politisch ambitionierten Nachkommen von NS-Funktionären und ihrem Umfeld – Stichwort „68er“ – die Denk- und Verhaltensstrukturen des Weltbürgerkrieges im allgemeinen und des Nationalsozialismus im speziellen weiterwirken, nun allerdings antifaschistisch gewandet und gegen das eigene Land gerichtet. Schimmert nicht manchmal gar eine verschämte Tötungslust durch? Es war die Götz-Aly-Generation, die junge deutsche Soldaten in undurchsichtige Kriege geschickt hat, wo sie – wie jetzt in Afghanistan – verheizt werden. In der inkompetenten Debatte um das furchtbare, tragische, aber eindeutig zum Selbstschutz durchgeführte Kundus-Bombardement beschleicht einen das Gefühl, es hätte lieber eine entsprechende Anzahl Bundeswehrsoldaten sterben sollen. Ob ihnen Götz Aly Rosen auf das Grab gelegt hätte?