Die Genderdebatte – sie ist zwar mit zeitgenössischem Feminismus verschmolzen, ihm aber keineswegs entsprungen. Ihre Wurzeln liegen in einem tief gespürten, zeitlosen Mangel, der sich mit Beginn der Neuzeit radikal zu steigern scheint. Wenn gegenwärtige Genderideologie die Geschlechterpolarität leugnet, dann ist ihr Ziel das Androgyne, der Hermaphrodit – der nicht Festgelegte. Jener Ausnahmemensch, der in heidnischer Antike seine Heiligsprechung erfuhr. Solch Sakralisierung geschah aber nicht aus Furcht, sondern entsprach einem tiefen menschlichen Bedürfnis: der Sehnsucht nach Vollkommenheit.
Schon Plato imaginierte den Urmenschen als Zwitterwesen, als Mann und Frau gleichermaßen. Es war Zeus, der diese Einheit zerriß, den Menschen dazu verdammte, auf Lebenszeit seine verlorene Hälfte zu suchen. Damit war der rebellische Zwittermensch für alle Zeit geschwächt. Im Licht des platonischen Mythos entpuppt sich die moderne Genderdebatte als neue Maske einer ewigen Menschheitsqual.
Wirkungslose Totalitarismen
Seit die Neuzeit, von Descartes bis Fichte, den Menschen auf das Ich als letzte Bastion der Gewißheit zurückwirft, ihn damit auch für existenzielle Einsamkeit sensibilisiert – muß das Individuum folglich alles Lebensnotwendige in sich selber suchen – und „finden“. Denn es hat nur noch sich selbst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärten Wilhelm Fliess und Otto Weininger die Begriffe „männlich“ und „weiblich“ für unzureichend. Der Mensch sei vielmehr eine Mischung aus beidem, mit jeweils unterschiedlichem Mengenanteil. Dem folgte Carl Gustav Jung, nach dem jedes Individuum gegengeschlechtliche Anteile in seiner Psyche trage: der Mann eine „Anima“, die Frau einen „Animus“.
All dies parallel zur zunehmenden Erkenntnis existenzieller Einsamkeit: Du bist restlos allein, aber du kannst, du mußt Dir alles selber sein! In ihr zeigt sich die ganze Brutalität, die ganze Last dieser zeitgenössischen Spielart des Individualismus. Um seiner Abwehr wegen kreierte das 20. Jahrhundert abscheuliche wie wirkungslose Totalitarismen. Inzwischen versucht der Westmensch, sich mit dieser Einsamkeit zu arrangieren, seine Atomisierung positiv umzuwerten. Er kompensiert sie mit Allmachtsphantasien. Deren Auswuchs ist unter anderem die irreale Forderung nach ökonomisch restloser „Selbstverantwortung“.
Selbstüberschätzung der Menschheit
Aber solche Imperative beschränken sich nicht auf ihren Bereich, den ökonomischen Sektor, sondern umgreifen die gesamte Existenz. Wenn ich mir restlos alles sein kann (und muß), dann auch meine eigene Frau, mein eigener Mann. Das ist innerhalb liberal-flexibler Relativierung von Bindungen derart konsequent, daß sie auch vor intimsten Identitätsfragen nicht stehenbleibt. So ist das Transgender-Modell nur eine weitere Selbstüberschätzung der Menschheit. Ein neuer Fluchtversuch aus der individuellen Isolationsfolter der Moderne.
Dabei feiert die Linke als Befreiungsideologie, was nur auf dem Boden zunehmender Wirtschaftsliberalisierung, also seit den neunziger Jahren, an Breitenwirkung gewinnen konnte. Eine amüsante Hochzeit fand da statt.
Denn das gemeinsam Geforderte dient keiner Befreiung mehr: „Auf Männern und Frauen lastet immer größerer Druck (!), traditionierte Werte des anderen Geschlechts zu übernehmen“ (Eva Illouz). Nicht die Emanzipation tatsächlich transsexueller Individuen ist das Ziel, sondern der atomisierte „Selbstbefriediger“. Spätere Generationen werden ihn retrospektiv mit dem gleichen Achselzucken betrachten wie sein Pendant, den totalen „Selbstverantwortlichen“ liberaler Ökonomen. Vielleicht kann das getrennte Zwitterwesen „Mensch“ sich dann wieder gegenseitig suchen. Um sich im anderen temporär zu vervollständigen.