Kaum zu glauben, daß diese antiquierte Debatte noch mal aufflammen würde. Und mit solcher Heftigkeit! Zugegeben, dazu bedurfte es zweier Großanlässe: Daniel Kehlmanns Salzburger Rede und Peter Zadeks Tod.
Dafür wird die Schlacht um so polemischer und parteiübergreifend geführt. Leider ohne Ausschöpfung ihres Potentials. Denn die Frage „Pro oder contra Regietheater“ führt direkt zu den Fundamenten: Was ist Theater überhaupt und was ist es gerade heute? Würde der Streit bis dahin vordringen, wäre aufgefallen, daß beide Seiten eine überholte Position vertreten, Befürworter wie Gegner!
Zunächst provoziert die Diskussion folgende Alternativen: Untersteht das Theater dem Text oder liefert letzterer „nur“ Inspiration für die Aufführung? Zwar scheiden sich die Textorientierten in buchstabengetreue Hardliner und solche, die durchaus Abweichung, Aktualisierung akzeptieren, so lange das Resultat dem „Geist der Vorlage“ gerecht wird. Trotzdem glauben beide: Der Theaterregisseur solle dem Stück „dienen“.
Wer ist der König der Aufführung?
Zwar dürfen Dichter die Werke ihrer Vorläufer bearbeiten – zum Beispiel Hölderlins kreative Sophokles-Übersetzungen – aber einem Regisseur stünde das nicht zu. (Daß die Literatur solche Favorisierung verdient hat, bleibt unausgesprochene Voraussetzung der Argumentation.) Schiffbruch erleidet diese Fraktion spätestens bei einem modernen Autor wie Tankred Dorst. Der versteht seine Dramen als Rohmaterial, das der Regisseur erst zusammenbaut.
Die wirkliche Gegenposition zu den Textorientierten bilden jene, die den Regisseur zum spiritus rector der Inszenierung erklären, für den die Vorlage nicht mehr als eine Anregung bedeuten sollte. Der Streit für oder wider das Regietheater mündet in der Frage: Wer ist der König der Aufführung? Autor oder Regisseur? – Halt! Es gibt auch noch die Liberalen, deren Credo lautet: „Warum streitet Ihr euch? Laßt doch beide Seiten machen. Je mehr Auffassungen vom Theater, um so besser.“
Klingt tolerant, scheitert aber an der Natur des Menschen. Denn jede Partei glaubt sich durch die Gegenseite diskriminiert, zensiert und vom Kulturmarkt gedrängt. Das hat Kehlmann erneut bewiesen, als er den Rauswurf des texttreuen Vaters aus den Hochburgen der Regie-Barbaren beklagte.
Live-Effekt verpufft
Dabei droht den Bühnen eine ungleich größere Gefahr – der Film. Seit über hundert Jahren wird die Bühne von dieser jungen Kunstform provoziert und herausgefordert. Wodurch? Indem der Film in wenigen Jahrzehnten neue Techniken kreierte, um die Vermittlung von Geschichten und Charakteren zu optimieren: rascher Perspektivenwechsel, Nahaufnahme, Kamerafahrt, Schnitt, Parallelmontage, Tonmischung und so weiter. Techniken, die den Schauspieler unterstützen, auf der emotionalen Klaviatur des Publikums zu spielen.
Das Resultat: Für das Geschichtenerzählen besitzt der Film inzwischen die besseren Mittel. Das Theater bezahlt seine Ignoranz derart, das selbst Bühnendarsteller lieber das Kino als die Vorstellungen ihrer Kollegen besuchen. Trotzdem streitet es lieber um die Frage, inwieweit der Regisseur einen Text verändern darf… Kurzum, man kaut am falschen Problem.
Schon ertönt der erste Einwand: „Aber das Theater hat doch den Live-Effekt.“ Schon, aber der kommt für Zuschauer ab der dritten Reihe kaum mehr zur Wirkung. Schließlich agieren die Schauspieler mit „vierter Wand“, um ihren „Kosmos“, ihre Charaktere und Geschichten ungestört aufzubauen, um Realität vorzutäuschen. Das Publikum ist für sie „nicht da“. Sie spielen ihm keine Energie zu. Wer dann noch weit entfernt sitzt, kommt sich vor wie im schlechten Film.
Theater der Riten
Anders beim Live-Konzert: Die Madonnas, David Bowies, Hanayos spielen frontal zum Publikum, schießen ihm die Energie zu. Und die Zuschauer synchronisieren sich mittels Körperbewegung zum Rhythmus der Musik. Hier findet der Live-Aspekt optimalen Gebrauch. Solche Konzerte erinnern an die Dionysosfeiern, bevor sie zur Tragödie sublimiert wurden. Bevor man den Großteil der Feiernden zum passiven „Publikum“ degradierte.
Ein Theater, das neben dem Film Bestand haben will, muß seine narrative Funktion überwinden, zu seinen Wurzeln vor Aischylos zurückgehen. Das begriff Antonin Artaud schon vor 80 Jahren, als er ein Theater der Riten forderte. Interaktiv wie ein religiöses Ritual, ohne herkömmliche Geschichte und Charaktere. Gestützt auf diese Theorie, experimentierten in den sechziger Jahren schon das „Living Theatre“, Hermann Nitzschs „Orgien-Mysterien-Theater“ oder Richard Schechner in diese Richtung. Moderne Varianten davon sind die Bühneninstallationen, in denen Zuschauer sich frei bewegen können. Dabei – man ahnt es schon – wird die Frage nach „Werktreue“ oder „Regietheater“ völlig bedeutungslos.