Etwas Unheimliches hält Einzug in die Kultur: der Krebs. Der Krieg gegen ihn, autobiographisch dokumentiert oder zum Kunstwerk verarbeitet. So in den jüngst erschienenen Krebs-Tagebüchern des Regisseurs Christoph Schlingensief (Titel „So schön wie hier kann´s im Himmel gar nicht sein!“).
Zuvor hatte er sie bereits als Eine „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, als Ritual-Theater inszeniert. Fünf Jahre ist es her, daß der Spiegel-Reporter Tiziano Terzzani mit seiner Autobiographie „Noch eine Runde auf dem Karussell – Vom Leben und Sterben“ einen Bestseller publizierte.
Thema: Sein Leben mit der Krebserkrankung. Werner Schröter, in den 70er Jahren Starregisseur des „Neuen Deutschen Films“, erzählt in Interviews über seine Haltung zum – inzwischen geheilten – Karzinom.
Krebstod in medialer Öffentlichkeit
Sein aktueller Film „Dieser Tag“, eine Mischung aus Kafka, de Sade und christlicher Mystik, thematisiert die Erkrankung nicht direkt, trotzdem: Als ständige Todesdrohung ist sie präsent.
Julia Jentsch spielte in „33 Augenblicke aus dem Leben“ eine junge Künstlerin, die Röntgenbilder vom Krebs ihrer Mutter digital verfremdet und als Werk verkauft.
Öffentlich datierte Avantgarde-Regisseur Kenneth Anger seinen Tod durch Prostatakrebs vorab auf Halloween 2008, was aber nicht eintraf. Politiker gestehen im TV ihre Karzinomerkrankung, auch die 27jährige Mrs. Goody aus London starb den Krebstod in medialer Öffentlichkeit.
Krankheit erhält mythologische Qualität
Und die Boulevardpresse? Die hob vorletzte Woche den Fall einer 52 Kilo schweren Frau in die Schlagzeilen, der ein 18 Kilo schweres Gewächs entfernt wurde. Sucht Deutschland jetzt den Supertumor?
War Krebs früher eine Krankheit, an der Kulturschaffende – sofern betroffen – in Zurückgezogenheit starben, wie Theodor Fontane am Magenkrebs, tauchte er im 20. Jahrhundert sporadisch in nicht-autobiographischen Werken auf (z. B. in Tennessee Williams’ „Die Katze auf dem heißen Blechdach“), so eroberte er vor 30 Jahren auch das autobiographische Schreiben: Maxie Wanders postume Tagebücher „Leben wär ne prima Alternative“ (1977) oder „Mars“ (1979) von Fritz Zorn.
Dabei bleibt nicht verborgen, daß die kulturelle Thematisierung dieser Krankheit mit gesteigerter Häufigkeit ihres Vorkommens – oder besserer Erkennungsmöglichkeiten – einhergeht. Sie erobert nicht nur das öffentliche Bewußtsein, sondern erhält auch mythologische Qualität.
<---newpage---> Tumor als „psychosomatische“ Strafe
Obwohl in vielen Fällen heilbar, ist sie zum Synonym für den Tod geworden, hat sie die Pest oder gar den Knochenmann erfolgreich abgelöst. Im dunklen Wuchern konzentriert sich die Angst vor der Unberechenbarkeit des Lebens.
Und weil die Ursache von Krebs letztlich unerklärt ist, projiziert man religiöse Strukturen hinein: Der Tumor als „psychosomatische“ Strafe für „falsche“ Lebensführung, für den Genuß von Tabak, Alkohol, Süßigkeiten usw.
Obwohl die „Auslöser“ stets umstritten bleiben, haben Müsli-Asketen, zwanghafte Positiv-Denker, Fitneß-Terroristen u. a. im Krebs einen angsterregenden Aufseher und Rächer ergaunert.
Henry S. Whitehead (1882-1932), Geistlicher und Dichter, schien dessen kommende Vergötzung geahnt zu haben. In seiner Kurzgeschichte „Das Ende eines Gottes“ erzählt er von einem Mr. Carswell auf Haiti. Dessen Einwohner glauben, daß sich eine „Gottheit“ in ihm aufhalte.
Leid in Metaphern artikuliert
Als der Arzt, Doktor Pelletier, einen Tumor in Carswells Magenbereich entdeckt, ihn operativ entfernt, bemerkt er, daß dieses grau-gelbliche Gewächs atmet. Daß es plötzlich die Augen öffnet: „Augen eines Wesens … von den Uranfängen her, vor aller menschlicher Zeitrechnung“ und „von einer unfaßlichen Bösartigkeit“.
Mit ähnlicher Symbolik beschrieb Heiner Müller seine Krebsdiagnose: „Der Arzt zeigt mir den Film DAS IST DIE STELLE / SIE SEHEN SELBST / Jetzt weißt du, wo Gott wohnt / DER TOD IST GROSS das Leben seine Falle“.
Daß ein Verängstigter, Sterbenskranker sein Leid in diesen Metaphern artikuliert, ist mehr als legitim. Aber die Noch-Gesunden, Nicht-Erkrankten darf man in bezug auf Krebs – vor allem im Punkte Ursachenforschung – um etwas mehr „Atheismus“ bitten. Der wäre, in diesem Fall, eine wirkliche Gnade.