Der Generation meiner derzeitigen Abiturienten werden im Feuilleton und in der Publizistik miserable Noten ausgestellt. Die harten Diagnosen sind bekannt, sie reichen von der „Generation Doof“ über „Generation Praktikum“ bis zu den bedingt richtigen Wahrnehmungen Raoul Schrotts und Meredith Haafs, die Jugend wäre orientierungslos zwischen dem kommerzialisierten Schwachsinn ihrer Leitmedien, den schrillen aber leeren Events und dem hohlen Geschwätz von Facebook und Twitter verloren. Unmündig und weitgehend entpolitisiert.
Daran ist phänomenologisch vieles richtig. Ein großer Teil meiner aus dem vermögenden Mittelstand stammenden Schüler, mit denen ich die zitierten Texte las, stimmte zu und war betroffen: Ja, wir sind so. Eigentlich finden wir es schlimm. Und wir fragen uns nach den Ursachen.
Vielmehr, als daß diese Schülergeneration kulturell oder gar intellektuell verloren wäre, habe ich den Eindruck, daß es sich um eine im Stich gelassene Generation handelt. Die politischen Versprechungen, die ihr oder eher ihren Eltern gemacht wurden, waren so groß wie verlogen. Im engsten Sinne betrifft das die enorme Kinderarmut. Man nimmt sie wahr, wenn man an den Restschulen, also außerhalb der sogenannten Gymnasien, unterrichtet. Aber der sozialen Armut dort entspricht die ideelle hier.
Ganztagsschule, eine Horrorvorstellung
Ich bin sicher: Die Sechzehn- bis Neunzehnjährigen, die ich unterrichte, wollen ans Werk gehen, wie es früher hieß, aber sie werden eingekreist von einem wohlmeinenden Kinderzirkus der Projekte, der Praktika und der Ganztagsschule. Allein der letzte Begriff erscheint mir symptomatisch. Er ist rein politisch generiert und soll offenbar trösten: Schule als heile Welt und Hort der Bewahrung vor der bösen oder tristen Wirklichkeit.
Ganztagsschule, das wäre noch für mich als Schüler eine Horrorvorstellung gewesen, selbst in der vormundschaftlichen DDR. Wir wollten mittags raus, wir wollten auf dem Traktor den Alten bei der Ernte helfen, wir wollten an unserer Karre schrauben und damit unterwegs sein, wir wollten außerhalb der Schule unsere Musik hören, wir wollten in der Bibliothek etwas möglichst Subversives als zweite Lesart zum Schulstoff suchen, wir wollten in Ruhe einen Brief schreiben, wir wollten zum Fußball.
Meine Schüler haben verblüffende Fähigkeiten: Es sind echte Informatiker darunter, richtige Techniker und hervorragende Stilisten. Sie sind verbindlich mir gegenüber und unter sich. Sie wünschen sich Verantwortung, die ihnen im künstlichen Lebenslabor Schule und in nur abzuhakenden Schein-Praktika kaum jemand überträgt. Sie sind wild darauf, etwas zu leisten, nicht nur für sich selbst, aber kaum jemand hat Aufgaben für sie, die über alberne Projekte hinausweisen. Allen, die Mumm haben, bleiben nur zwei Alternativen: Entweder sie gestalten in der Schule etwas Lebendiges, was meist nicht den „Vorgaben“ der verschnarchten Kultusministerien entspricht, oder sie suchen sich draußen die Herausforderungen, wie es seit eh und je natürlich ist.
Die Mitte als laues Mittelmaß identifiziert
Wo ich als Lehrer etwas erreichen konnte und erfolgreich war, da war ich es grundsätzlich gegen die nervenden Zähigkeiten, langweiligen Artigkeiten und opportunistischen Korrektheiten des Systems und außerhalb der als modern geltenden Grundvereinbarungen der politisch verquasten Kultusminister-Rhetorik. Und um jene, die Ideen und Anstrengungen als anregend empfinden und die es genießen können, sich selbst zu überwinden und neue Wege zu entdecken, kann ich mich außerhalb des Raumes Schule besser kümmern als darin eingeschlossen.
Meine Leute wollen raus. Sie wollen den Infantilisierungen ebenso entgehen wie den künstlichen politischen Inszenierungen. Und fast immer mache ich die Erfahrungen, dass diejenigen mit Leidenschaft und Talent, so sie Politik überhaupt interessiert, sich entweder in der kritischen Linken oder in der kritischen Rechten zu artikulieren lernen. Die Mitte identifizieren sie als laues Mittelmaß, vor allem aber als Phrase.