In den letzten Tagen beschäftigten die aus der Justizvollzugsanstalt Aachen entlaufenen Schwerverbrecher Peter Paul Michalski und Michael Heckhoff die Medien so intensiv, daß man sich beinahe fragte, was eigentlich von unsereinem erwartet wird: ebenfalls nach den beiden Ausschau zu halten oder doch lieber Fenster und Türen zu verriegeln?
Natürlich habe ich weder das eine noch das andere getan, sondern mich statt dessen gefragt, warum von flüchtigen Verbrechern eine derart merkwürdige Faszination ausgeht, so daß wahrscheinlich nicht nur ich mich bei dem heimlichen Gedanken ertappen mußte, ihnen beinahe die Daumen zu drücken – wohlgemerkt: nur beinahe –, daß ihnen noch ein paar Tage gehetzten Freiheitsrausches bleiben mögen, obwohl ich die Behandlung von Verbrechern durch die Justiz sonst zuweilen für allzu mildtätig erachte.
Dabei handelt es sich hier ja durchaus um Verbrecher und nicht um unrechtmäßig verurteilte Grafen von Monte Christo oder wenigstens um „sympathische“ Gangster, die aus einem menschenunwürdigen Alcatraz fliehen; doch selbst wenn wir von völlig zu Recht bestraften Tätern ausgehen, bleibt ein erklärungswürdiger Restbestand an Faszination.
Ambivalenz des Heiligen
Der Ausbruch des Flüchtigen aus der staatlichen Ordnung, als deren „biopolitisches Paradigma“ in der Moderne der Philosoph Giorgio Agamben das „Lager“ ansieht (unabhängig von ihrer demokratischen oder totalitären Verfassung), ist zugleich der Einbruch des „nackten Lebens“ in diese. Und das nackte ist nach Agamben zugleich das „heilige Leben“, wie er unter Rückgriff auf den geheimnisvollen römischen Rechtsbegriff des „homo sacer“ deutlich zu machen versucht. Worin besteht dessen Heiligkeit?
Als „homo sacer“ wurde bezeichnet, wessen Leben nicht geopfert und dennoch straflos getötet werden durfte. Man hat dies so gedeutet, daß der homo sacer bereits den Göttern der Unterwelt gehöre, ihnen daher schnellstmöglich übereignet werden müsse und nicht mehr anderweitig vergeben werden könne; oder man hat im Begriff „sacer“ eine Doppeldeutigkeit von „heilig“ und „verflucht“ ausgemacht, die der Ambivalenz des Heiligen als „faszinosum“ und „tremendum“ (Grauen), wie es von Emile Durkheim, Rudolf Otto oder Mircea Eliade aufgefaßt wurde, entspreche.
Agamben sieht jedoch, an Carl Schmitt anknüpfend, hinter der vordergründig religiösen Formel „sacer esto“ („heilig sollst du sein“), mit welcher der homo sacer aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen wurde, den Ursprungsakt des Politischen und Ausdruck der reinen Souveränität selbst. Erinnern wir uns: Souverän ist nach Schmitt, wer über den Ausnahmezustand gebietet, das heißt, wer die Macht hat, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Hinter diesen beiden (außen-)politischen Grundkategorien steht für Agamben noch ein anderer, abstrakterer Gegensatz: der von Innen und Außen überhaupt. Wer souverän ist, existiert zugleich innerhalb und außerhalb des Rechts – weil sein Setzungsakt als Rechtsquelle noch innerhalb, als an kein Recht gebundene Entscheidung außerhalb dessen liegt.
Auf der Grenze von Innen und Außen
Die „sacratio“ entspricht nun aber genau dem Akt der Souveränität, denn der zum homo sacer Erklärte verfügt nur noch über sein nacktes Leben, nicht jedoch mehr über eines in der Gemeinschaft – die Griechen unterschieden in diesem Sinne, für unseren heutigen Sprachgebrauch irritierend, zwischen „zoe“ und „bios“, wobei allein der Mensch als „zoon politikon“ beide Lebensformen umspannt. Der homo sacer ist geradezu das fleischgewordene Objekt der Souveränität.
Deutlicher wird dies in der germanischen Friedloserklärung eines Verbrechers, der zum in die Wildnis verbannten „Wolfsmenschen“ wurde, oder in der davon abgeleiteten mittelalterlichen Acht, die über die Rezeption des römischen Rechts auch mit der „sacratio“ verbunden ist; womöglich verweisen alle diese Rechtsbegriffe auf einen gemeinsamen indogermanischen Archetypus. Auch der Geächtete und Wolfsmensch fristet sein Dasein genau auf der Grenze von Innen und Außen – er wird aus dem Zentrum (der Souveränität) nach außen verwiesen und bleibt doch in jedem Augenblick, gerade weil er ständig auf der Flucht ist und von jedem jederzeit getötet werden kann, auf das Innen bezogen.
Totale „Entwilderung“ des Menschen
Äußert sich die Souveränität in früherer Zeit vor allem in der Exklusion, der „sacratio“ und Ächtung, so besteht sie seit Beginn der Neuzeit, der mit dem Sieg der Zivilisation über die Wildnis korrespondiert, in der Inklusion: War in römischer Antike und germanisch-deutschem Mittelalter der Ausstoß aus der Zivilisation und Verweis in die Wildnis, man könnte auch sagen: die „Vertierung“, die schwerste Strafe, so ist es in der Neuzeit die gänzliche Vereinnahmung, der Freiheitsentzug als totale „Entwilderung“ des Menschen im Gefängnis (jeweils von der Todesstrafe abgesehen, von der fraglich ist, ob sie wirklich so viel inhumaner ist als die beiden erwähnten Formen der Strafe).
Gewiß gibt es heute, da die Heiligkeit des nackten Lebens zum Grundbegriff der Menschenrechte erhoben wurde, keine Ächtung, keine straflose Tötung des Friedlosen, erst recht keine Menschenopfer und Opferverbote mehr, doch mag ein wenig davon im öffentlichen Interesse mitschwingen, das zwei entlaufenen Schwerverbrechern – ganz unabhängig von ihrer massenmedial dramatisierten Gefährlichkeit – gewidmet wird. Sie sind aus dem Lager in die Wildnis, gleichsam von einem modernen zu einem vormodernen Archetypus, geflohen; aus Insassen wurden für eine kurze Zeit wieder Wolfsmenschen.