Morgens stand ich jetzt am offenen Fenster und lauschte ins Freie. Die Vögel zwitscherten. Der Frühling kommt. Was war das aber ansonsten für eine Stille! War es nicht ruhiger als sonst? Vielleicht war es nur Einbildung. Wie Schleier senken sich die Folgen der Corona-Krise über das Land.
Berlin hat seit dem Wochenende wie alle Städte in Deutschland seinen Betrieb heruntergefahren. Die Partystadt war gestern. Touristen gibt es nicht mehr. Keine Reisebusse verstopfen mehr die Straßen. In der Mittagspause sind keine Schulkinder mehr zu sehen. Erinnerungen an die „Autofreien Sonntage“ während der Ölkrise 1973 werden wach. Lachhaft im Vergleich zu den jetzigen Vorgängen.
Mitten aus einer Gesellschaft auf Hochtouren vollziehen wir gerade eine Vollbremsung. Alle Pläne, alle Routinen, alle Prioritäten von gestern sind Makulatur. Gebuchte Urlaube von Mitarbeitern lösen sich in Luft auf. Die ersten Firmen schließen. Ein Freund mußte in der vergangenen Woche noch zu einem Fachseminar nach Frankfurt fliegen. Seinen Vortrag schrieb er wieder auf den letzten Drücker.
Was ist wirklich wichtig im Leben?
„Hören die mir überhaupt zu? Die Hälfte schaut sowieso in die Handys und will später den Vortrag nachlesen. Wenn überhaupt.“ Jetzt fände das Seminar nicht mehr statt. So wie viele dieser Konferenzen, Meetings, abendlichen Empfänge, mit denen wir unsere Kalender vollstopfen. Das Hetzen von Termin zu Termin – war all dies nötig, wenn wir noch einmal nachdenken?
Das gesellschaftliche Not-Aus wirft viele von uns plötzlich auf diese essentielle Frage zurück: Was ist eigentlich wirklich wichtig im Leben? Das eigene Zuhause, die Menschen, mit denen wir uns vielleicht sogar in Quarantäne begeben müssen, plötzlich wird dieser Hafen zum entscheidenden Halt. Familie, Freunde – wer bleibt übrig, auf den ich mich verlassen kann, wenn alle Stricke reißen?
Noch am Freitag mußten wir einen Freund, einen Autor dieser Zeitung, auf seinem letzten Weg begleiten, der im Alter von 57 Jahren plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Das starke Band von Familie und Freunden trat mit einer 200 Köpfe zählenden Trauergemeinde kraftvoll vor unsere Augen.
Vergessene Tugenden werden reaktiviert
Die Corona-Krise wird in ihren volkswirtschaftlichen Auswirkungen wohl den 11. September 2001, die Finanzkrise 2008/09 und die Eurokrise in den Schatten stellen. Der Vollbremsung des öffentlichen Lebens in allen westlichen Industriestaaten folgt unausweichlich eine Wirtschaftskrise ungekannten Ausmaßes.
Im Versuch, möglichst viele Leben zu retten, eine tödliche Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern, werden lange vergessene Tugenden reaktiviert, ohne die im Ernstfall eine Gemeinschaft auseinanderbricht. Das wird jetzt erfreulicherweise tausendfach sichtbar. Lassen Sie uns zusammenhalten.
JF 13/20