Neulich bei einer Familienfeier: Eine entfernte Tante feierte in Berlin ihren 80. Geburtstag. Über die Urgroßeltern väterlicherseits sind wir verwandt. Zu fortgeschrittener Stunde kommen wir mehrfach auf diese zu sprechen. Sie nahmen sich kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee in Greifswald 1945 das Leben. Ihren Abschiedsbrief besitze ich in Kopie. Sie waren überzeugte Nationalsozialisten. Sie ertrugen wohl die mehrfache Schande nicht: den Zusammenbruch ihrer Ideale und die kommende Demütigung. Fliehen wollten sie nicht mehr, sondern zu Hause sterben.
Ein Onkel, Enkel dieser Urgroßeltern, erklärte verbittert, es sei doch alles schöngeredet worden von seinen Eltern. „Die haben doch alle gewußt, was da passiert.“ Er hat mittags das Holocaust-Mahnmal in Berlin und die dortige Ausstellung besucht. „Furchtbar. Und alle haben weggeschaut.“ Ich widerspreche und meine, es sei ein Irrtum, daß „alle“ etwas gewußt haben von der Judenvernichtung, überhaupt vom Ziel der Deportation.
Die These, „alle haben davon gewußt“, werde doch vielmehr interessanterweise gerade von Angehörigen derjenigen Familien besonders inbrünstig verbreitet, deren Eltern oder Großeltern tatsächlich etwas wußten oder sogar administrativ in Verbrechen verwickelt gewesen seien. Beispiel Reemtsma oder von Weizsäcker. Indem man Schuld, Verantwortung und Mitwissertum auf das ganze Volk ausdehne, entlaste man elegant sich und seine Familie, relativiere das eigene Versagen oder das der Angehörigen.
Symbol gegen die Kollektivschuld
Mich interessiere mehr, wer denn den Mut hatte, wenn er von Verbrechen des NS-Staates erfuhr, sich zum Widerstand zu entschließen. Und das seien keineswegs wenige gewesen. Gerade die Militäropposition, die in der „Operation Walküre“ und dem Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Hitler am 20. Juli 1944 kulminierte, sei das herausragende Beispiel, wie weitverzweigt der Widerstand gewesen sei. Ein großartiges Vorbild für nachfolgende Generationen und Symbol, daß es eine Kollektivschuld nicht geben könne.
Verächtlich schnaubte mein Onkel: „Stauffenberg? Dieses dilettantisch durchgeführte Attentat? Das war ja gar nichts. Viel zu spät und als der Zug schon abgefahren war.“ Ich war verblüfft, wie leicht ihm diese wegwerfenden Worte über die Lippen gingen. Ein Opportunist, der die Tat eines Mutigen als Vorwurf gegen sich empfindet? Ich erzählte ihm vom Publizisten Wolfgang Venohr, dem wir mehrere mitreißende Bücher über den patriotischen Widerstand und insbesondere Stauffenberg verdanken.
Venohr empfand den Putsch des 20. Juli als junger Frontsoldat als Verrat. Später dann näherte er sich mühsam dem Widerstand an und erkannte den Zeiten überdauernden Rang dieser Tat. Stauffenbergs Porträt, das einst in Venohrs Büro als Stern TV-Chefredakteur hing, blickt heute mir an meinem Schreibtisch über die Schultern.
JF 30/15