Präsident Barack Obamas Verzicht auf die Errichtung eines US-Raketenabwehrsystems in Polen und einer gigantischen Radarstation in Tschechien ist voreilig als Zeichen der Schwäche bewertet worden. Doch der amerikanische Präsident hatte gute Gründe, ein besseres Verhältnis zu Rußland zu suchen.
Obama hat erkannt, daß eine Konfrontation mit Rußland den amerikanischen Interessen auf Dauer zuwiderlaufen könnte. Vor allem im Hinblick auf Afghanistan hat sich ein entscheidender Wandel eingestellt. Konnten sich die US-Streitkräfte bisher noch auf einen reibungslosen Nachschub für ihre Truppen über Pakistan verlassen, so sind diese Zugangswege außerordentlich unsicher geworden.
In Zukunft wird also der Nachschub für die US-Armee überwiegend über die ehemaligen sowjetischen Republiken Zentralasiens, aber auch über russisches Territorium gelenkt werden müssen: eine Situation, die für die Bundesrepublik längst Realität ist. Ihr Isaf-Kontingent ist seit Jahr und Tag auf den usbekischen Flugplatz Termes an der Südgrenze Usbekistans angewiesen.
Moskaus Angst vor den Taliban
Angesichts dieser Entwicklungen kristallisiert sich nun heraus, daß auch Rußland durch eine Machtergreifung radikal-islamischer Kräfte in Kabul fast unmittelbar bedroht wäre. Moskau sieht die Gefahr, daß die Taliban-Bewegung sehr schnell auf Tadschikistan, Usbekistan und eventuell auch Kirgisistan übergreifen und den dortigen Potentaten, die noch aus dem sowjetischen Regime stammen, ein Ende bereiten könnte.
Die Behauptung des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD), daß Deutschland am Hindukusch verteidigt werde, muß korrigiert werden. In Wirklichkeit wird Rußland am Hindukusch verteidigt. Denn auch jenseits der GUS-Staaten, heißt innerhalb der eigentlichen Russischen Föderation, leben 25 Millionen Muslime, die durchaus zu einem Element des Aufruhrs werden könnten. Endlich hat also Washington eine amerikanisch-russische Interessensolidarität in Zentralasien erkannt, die Präsident George W. Bush noch krampfhaft verweigert hatte.
Ungewohnte Einstimmigkeit im Weltsicherheitsrat
Selbst China steht in diesem Sinne in einer Reihe gegen jede Form von islamischem Extremismus, seit die türkische Minderheit der Uiguren sich im Namen des Islam gegen Peking erhoben hat. Insofern herrscht im Hinblick auf die Verlängerung des Isaf-Mandats in Afghanistan ungewohnte Einstimmigkeit im Weltsicherheitsrat. Ob in Berlin diese profunden Wandlungen unter den derzeitigen Großmächten wirklich erkannt worden sind, bleibt jedoch zweifelhaft.
Die Weigerung, den Afghanistan-Einsatz als Krieg anzuerkennen, und die Behauptung, man müsse dort Mädchenschulen bauen und darauf hinwirken, daß die Frauen unverschleiert gehen, sind gewiß keine ausreichende Legitimation, deutsche Soldaten in einen eventuell tödlichen Einsatz zu schicken.
Peter Scholl-Latour ist Publizist. Anfang November erscheint sein neues Buch „Die Angst des weißen Mannes – Eine Welt im Umbruch “, Propyläen Verlag, Berlin 2009, gebunden, 368 Seiten, 24,90 Euro.
JF 43/09