Die einen können ihr Glück kaum fassen, und die anderen wissen auch nicht, wie ihnen gerade geschieht. Wer in diesen Tagen in Union und SPD hineinhorcht, könnte meinen, auf einen politischen „Ball verkehrt“ geraten zu sein. Da sind zum einen die Sozialdemokraten mit dem schlechtesten Bundestagswahlergebnis seit Parteigedenken. Doch statt in Sack und Asche zu gehen, kann die krachend gescheiterte SPD-Führung die Union – den Wahlsieger – wie einen lästigen Juniorpartner vor sich hertreiben.
Und da ist zum anderen der Wahlsieger Friedrich Merz. Mit traurigem Blick sitzt er auf Podien und muß sich immer wieder vorhalten lassen, daß fast die Hälfte seiner Parteimitglieder und sogar drei Viertel der Gesamtbevölkerung seine Schuldenwende als „Wählertäuschung“ verübeln. Ein Glaubwürdigkeitsverlust, der mit seinem Namen verbunden bleiben wird.
Der faule Kompromiß wird zum Alltag
Erst die Schulden, dann das Land. Nach diesem Motto hat Merz innerhalb von Tagen den mühsamen Abschied von der Merkel-Ära rückabgewickelt. Noch nie in der Parteiengeschichte der Bundesrepublik hat ein Wahlsieger sein zentrales Wahlversprechen – die Verteidigung der Schuldenbremse – so rigoros unmittelbar nach der Wahl verraten. Soll man da noch an den vollmundig versprochenen „Politikwechsel“ bei der Migrations-, Arbeitsmarkt- und Energiepolitik glauben?
Besonders mißtrauisch machen anschwellende Beschwörungsgesänge, mit denen die Koalitionäre in spe nun den „Kompromiß“ als solchen zum demokratischen Hochamt stilisieren. Schon kündigen Bundesländer an, mit den für die Infrastruktur vorgesehenen Verschuldungsermächtigungen die aufgetürmten Defizite infolge der ungesteuerten Masseneinwanderung umzuschulden. Vom Schuldenkompromiß zum Migrationskompromiß – nahezu täglich häufen sich Beispiele, wie unter dem Deckmantel vermeintlich demokratiebewahrender Verständigungsrituale die Verstetigung von überbürokratisierter Mißwirtschaft und Staatsversagen „geeint“ wird. Der faule Kompromiß wird zur Konstante des Systems.
Merz betrieb Wählertäuschung mit Ansage
Man kann darin durchaus System erkennen. Die Merzsche Schuldenwende mag mit all ihrer Chuzpe noch so singulär erscheinen und als Folge einer völlig unerwartet hereingebrochenen Großwetterlage umgedeutet werden. Die nun angestrebte Koalition unter grüner (Kredit-)Duldung folgt sehr wohl einem Szenario, das im Konrad-Adenauer-Haus schon lange vor der Wahl durchgespielt worden sein dürfte. Für diese Einschätzung muß man nicht warten, bis Historiker eines Tages die entsprechenden Protokolle aus den geöffneten Parteiarchiven ziehen dürfen.
Denn mit dem Festhalten der Union an der Brandmauer zur AfD war bei dem nach menschlichem Ermessen zu erwartenden Bundestagswahlergebnis eine mehr oder weniger formalisierte Superkoalition aller anderen gegen die Blauen unausweichlich. Früher oder später. Die mit den Grünen kam mit der Schuldenwende früher. Die mit der Linkspartei kommt später. Erste Avancen der Union in Richtung Linkspartei, um deren Zustimmung zu weiteren Grundgesetzänderungen einzuwerben, sind bereits zu hören.
Insofern erscheint der gesamte Unionswahlkampf als Wählertäuschung mit Ansage. Das Einsammeln der Wahlversprechen war und ist ebenso eingepreist wie im wahrsten Merkelschen Sinne alternativlos. So alternativlos wie jetzt die von Friedrich Merz angestrebte Kanzlerschaft unter sozialdemokratischer Programmherrschaft.
Karlsruhe und EU sollen das Schicksal der Republik besiegeln
Als einer der wenigen intellektuellen Köpfe der Union nennt es der Mainzer Historiker und ehemalige Vorsitzende der CDU-Grundwertekommission, Andreas Rödder, beim Namen. Er spricht von einer „babylonischen Gefangenschaft“, in die sich die Union vom links-grünen Lager habe führen lassen. Mehr noch als ein „Glaubwürdigkeitsproblem“ befürchtet Rödder eine „Vertrauenskrise der Bevölkerung in die politischen Institutionen, die nicht liefern“. Daraus könne sich eine „Systemkrise“ entwickeln, warnt er seine Union.
Wie diese Systemkrise aussehen könnte, offenbart ein in seinen Auswirkungen noch gar nicht absehbarer Erfolg der Grünen im Zuge der von Merz vollzogenen Schuldenwende. Es ist die Verankerung von zeitlich fixierten Klimazielen im Grundgesetz. Der Vorgang reiht sich ein in eine fortschreitende Verrechtlichung der Politik, die den Entscheidungsspielraum parlamentarischer Mehrheiten immer weiter einschränkt.
Das fängt beim verfassungsrichterlich festgelegten Existenzminimum beim Bürgergeld an und hört beim maßlos überzogenen Datenschutz der Karlsruher Richter noch lange nicht auf. Hinzu kommen höchstrichterliche EU-Vorgaben etwa bei der Zuwanderung und die Brüsseler Regulierung des Mindestlohns. Mit einer Art Überverfassung werden nationale Parlamente aus Brüssel präjudiziert und eingemauert. Der Klima-Coup der Grünen ist nur insofern besonders bemerkenswert, als hier ein Wahlverlierer den Wahlgewinner auf selten dreiste Art beim Verfassungsbillard über Bande vorgeführt hat. Und welche Kultur der „Demokratieförderung“ die SPD jetzt bei den Koalitionsverhandlungen auch noch als Staatsziel ins Grundgesetz drücken will, kann man sich leicht ausmalen.
Ein Verfassungskonflikt droht
Doch nicht nur hierzulande wächst der Widerstand gegen solche Art Brandmauern. Den Vorreiter einer Reconquista gegen den „Richterstaat“ sieht der Historiker Jörg Baberowski in Donald Trump. Der zeige allen, die ihn gewählt haben, „daß wir nicht in einer alternativlosen Welt leben“, sagt der Berliner Totalitarismusexperte. Trump stelle „den Primat des Politischen mit aller Brutalität wieder her“. Diese Haltung könne sich auch in Europa ausbreiten, so Baberowski.
Hierzulande mag die Verfassungstradition die Renaissance des Politischen verzögern. Schließlich haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes dem parlamentarisch repräsentierten Volkswillen aus historischer Erfahrung besonders enge Grenzen gesetzt. Doch wie berechtigt dieses historische Erbe einmal gewesen sein mag. Längst dient es einer hypermoralisierenden Parlamentsminderheit als Hebel zur politischen Obstruktion der Wählermehrheit. Begleitet vom Getöse eines Nazi-Tourette-Syndroms. Das kann nicht ewig gutgehen.
So offenbart die schwarz-rote Inszenierung weit mehr als Winkelzüge eines überforderten CDU-Vorsitzenden, und die Koalitionäre könnten sich sehr bald noch ganz anders wundern, wie ihnen geschieht. Denn über diesen Koalitionsverhandlungen flimmert das Wetterleuchten eines Verfassungskonflikts, der zum Ausbruch drängt. Wenn der Primat der Politik sich Bahn bricht. So oder so.