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Bosnien-Herzegowina: Der Zusammenbruch des liberalen Internationalismus im letzten Protektorat Europas

Bosnien-Herzegowina: Der Zusammenbruch des liberalen Internationalismus im letzten Protektorat Europas

Bosnien-Herzegowina: Der Zusammenbruch des liberalen Internationalismus im letzten Protektorat Europas

Johann Wadephul (r, CDU), Außenminister, steht neben Christian Schmidt (CSU), dem Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, bei seiner Reise durch den Westbalkan. Die Europäische Union hatte den Westbalkanländern 2003 den Beitritt in Aussicht gestellt. Zu den Westbalkanländern gehören Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien.
Johann Wadephul (r, CDU), Außenminister, steht neben Christian Schmidt (CSU), dem Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, bei seiner Reise durch den Westbalkan. Die Europäische Union hatte den Westbalkanländern 2003 den Beitritt in Aussicht gestellt. Zu den Westbalkanländern gehören Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien.
Christian Schmidt und Außenminister Wadephul (r.): Faktisch ein Diktator. Foto: picture alliance/dpa | Michael Kappeler
Bosnien-Herzegowina
 

Der Zusammenbruch des liberalen Internationalismus im letzten Protektorat Europas

Dreißig Jahre nach Dayton herrscht Frieden, doch die Souveränität bleibt aufgehoben. Ein Staat kann nicht reifen, solange er von einer äußeren Hand regiert wird. Eine Analyse von Filip Gaspar.
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Bosnien hat nie eine einheitliche nationale Identität im modernen Sinne besessen. Hervorgegangen aus dem Abkommen, das den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete, bleibt das Land in einem konstitutionellen Gleichgewicht verankert, das Pluralität statt Einheit widerspiegelt. Es bleibt ein politischer Raum, der von Bosniaken, Kroaten und Serben geteilt wird – drei historischen Gemeinschaften, deren Erinnerungen, Ängste und Ambitionen weit öfter divergieren als konvergieren.

Dayton hat diese Struktur nicht erfunden. Es hat sie lediglich formalisiert. Bosniens politische Ordnung beruht auf der Anerkennung von drei konstituierenden Völkern, deren Identitäten die Struktur des Staates prägen.

Die Bosniaken, mehrheitlich muslimisch, bilden den demographischen Kern des Landes. Die Kroaten, überwiegend katholisch, sind kulturell nach Westen orientiert. Die Serben, vorwiegend orthodox, stehen historisch und institutionell in enger Verbindung zu Serbien. Dayton kodifizierte ihren verfassungsrechtlichen Status und schuf eine politische Architektur, die ihr Zusammenleben reguliert.

Der Frieden hält an, aber echte Souveränität fehlt

Die internationale Diplomatie spricht gern von „Bosniern“, als handle es sich um ein einheitliches politisches Volk. Doch Bosnien und Herzegowina besitzt keinen solchen Demos. Seine Verfassung erkennt drei konstituierende Völker als tragende Subjekte des Staates an, jedes mit eigenem Mandat, eigenen Loyalitäten und einem eigenen Verständnis davon, was Souveränität bedeuten soll.

Dieses Land funktioniert nicht durch nationalen Zusammenhalt, sondern durch ein ausgehandeltes Nebeneinander. Dieser Ausgangspunkt ist essentiell. Ohne diese Vorkenntnisse wirkt Bosnien chaotisch, seine Institutionen undurchsichtig und seine Konflikte irrational. Mit diesem Verständnis wird die Struktur erkennbar: Bosnien ist kein Nationalstaat, sondern eine politische Ordnung, die darauf ausgelegt ist, Unterschiede zu verwalten. Eine Architektur, die Dominanz verhindern soll, aber Schwierigkeiten hat, echte Selbstregierung hervorzubringen.

Der Frieden hält an, aber echte Souveränität fehlt. Hervorgegangen aus dem Abkommen, das den blutigsten europäischen Konflikt seit 1945 beendete, bleibt Bosnien und Herzegowina ein Land, das verwaltet, wählt und verhandelt, aber keine echte Selbstregierung ausübt. Es ist der einzige Ort auf dem Kontinent, an dem Stabilität konstruiert wird, während politische Reife strukturell verhindert bleibt. Ein Land, das zwischen Frieden und Autonomie schwebt, von seinen eigenen Institutionen regiert und zugleich von Mächten oberhalb ihrer beaufsichtigt wird.

Europa im Rausch des vermeintlichen Endes der Geschichte

Das Gewicht des Dayton-Jubiläums läßt sich nicht erfassen, ohne den Krieg in Erinnerung zu rufen, der ihm vorausging, nicht als Abfolge militärischer Operationen, sondern als moralische Katastrophe, die Europas Selbstverständnis erschütterte, wonach die Ordnung nach dem Kalten Krieg großflächige Gewalt hinter sich gelassen habe. Es war ein Konflikt, der die Zerbrechlichkeit dieses Selbstbilds offenlegte, ein Krieg, der ausgerechnet in dem Moment auf dem Kontinent ausbrach, als Europa sich bereits sicher glaubte, über solche Barbarei hinaus zu sein.

Belagerte Städte, zerstörte Gemeinschaften und der Zusammenbruch des Alltags zeigten, wie rasch die Versprechen einer neuen Ära hinter die Grausamkeiten der alten zurückfallen konnten. Mit der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens am 14. Dezember 1995 in Paris endeten die Kämpfe, doch der politische Streit über die Gestalt des Staates begann erst.

Der Krieg, der Bosnien zwischen 1992 und 1995 auseinanderriß, war kein Bürgerkrieg im konventionellen Sinn. Es war der blutigste europäische Konflikt seit 1945, fast hunderttausend Tote, mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben, ganze Städte verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Europa, im Rausch des vermeintlichen Endes der Geschichte, mußte erkennen, daß sein Boden noch immer bereit war, Blut in industriellen Mengen aufzunehmen. Dayton beendete das Töten, stellte jedoch keine Souveränität wieder her. Es fror den Krieg in Institutionen ein und nannte das Ergebnis Frieden.

Die Vereinigten Staaten zögerten lange

Drei Jahrzehnte später bleibt Bosnien und Herzegowina das letzte westliche Protektorat auf dem Kontinent. Die wirkliche Macht liegt nicht in seinen Parlamenten, nicht bei seinen drei Präsidenten und auch nicht bei seinen vierzehn Versammlungen. Sie liegt in den Händen eines nicht gewählten ausländischen Beamten, des Hohen Repräsentanten, der per Dekret Gesetze erlassen, gewählte Amtsträger entlassen, Gerichtsurteile aufheben und das Strafgesetzbuch nach Belieben umschreiben kann.

Dies ist keine provisorische Ordnung, die aus dem Ruder gelaufen ist. Es ist eine verwaltete Form von Souveränität, ein lebendiges Relikt der interventionistischen 1990er Jahre, das in eine Epoche hinübergerettet wurde, die nicht mehr an die Prämissen glaubt, aus denen es entstanden ist.

Der Westen betrachtete diesen Zusammenbruch mit einer Mischung aus Faszination, Schuld und Lähmung. Die europäische Diplomatie steckte fest zwischen ihrer moralischen Rhetorik und ihrer strategischen Vorsicht. Die Vereinigten Staaten zögerten lange, bevor sie überhaupt bereit waren, entschieden einzugreifen.

Dayton war mehr als nur ein Friedensabkommen

Als der Frieden schließlich kam, war er nicht das Ergebnis einer kohärenten moralischen Vision, sondern das Resultat von Erschöpfung und der Einsicht, daß das fortgesetzte Scheitern, den Konflikt zu beenden, das nach dem Kalten Krieg kultivierte moralische Selbstbild des Westens untergraben würde. Der Krieg wurde zu einer moralischen Schuld, die nur durch den Aufbau einer Ordnung beglichen werden konnte, die seine Wiederholung verhindern sollte.

Dayton war nicht nur ein Friedensabkommen. Es war eine Form der Wiedergutmachung. Es beruhte auf der Vorstellung, daß Stabilität herstellbar sei, wenn die internationale Gemeinschaft die Verantwortung für das politische Leben eines Landes übernehme, dessen Institutionen im Krieg zerstört worden waren.

Diese Vorstellung prägte den eigentümlichen Charakter der Nachkriegsordnung. Der Westen wollte nicht nur einen Krieg beenden, sondern auch die moralischen Folgen seines Zögerns einhegen, während Europa erneut in Gräuel abglitt. Dayton wurde damit mehr als ein Waffenstillstand. Es wurde zur Grundlage eines pädagogischen Projekts: Bosnien sollte nicht nur stabilisiert werden, sondern lernen, wie ein Staat überhaupt funktioniert.

Ein ausländischer Beamter regiert das Land

Was als Notmaßnahme auf eine moralische Krise begann, erstarrte zu einer Regierungsphilosophie: der Vorstellung, eine verwundete Gesellschaft könne nur heilen, wenn ihr politischer Reifeprozeß auf unbestimmte Zeit ausgesetzt würde. Aus diesem Glauben entstand eine einzigartige politische Architektur, bestehend aus drei konstituierenden Völkern, zwei nahezu souveränen Entitäten, zehn Kantonen, vierzehn Parlamenten, einer dreigliedrigen Präsidentschaft und einem Geflecht von Veto-Rechten, das bewußt darauf ausgelegt war, Politik zu blockieren statt zu ermöglichen. Der Krieg endete, doch die Politik wurde in einen Zustand künstlicher Erstarrung versetzt, ein Frieden, der durch Lähmung aufrechterhalten wird.

An der Spitze dieser erstarrten Struktur steht ein Amt, das nie für ein solch langes Überleben vorgesehen war. Als der Hohe Repräsentant 1995 als vorübergehende stabilisierende Präsenz geschaffen wurde, ahnte niemand, daß er zwei Jahre später in Bonn in eine nicht gewählte Exekutivinstanz verwandelt würde, ausgestattet mit Befugnissen, die im zeitgenössischen Europa ohne Beispiel sind. Die sogenannten Bonn-Mächte erlauben Eingriffe, die keine bosnische Institution überprüfen und keine Wählerschaft widerrufen kann.

Das Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina hat feierlich festgestellt, daß es nicht zuständig ist, die Entscheidungen dieses ausländischen Amtsträgers zu prüfen. Souveränität liegt damit weder in Sarajevo noch in Banja Luka oder Mostar, sondern in den Händen eines europäischen Beamten, der niemandem im Land Rechenschaft schuldet.

Experiment postnationaler Steuerung

Was als provisorische Autorität gedacht war, wurde zu einem strukturellen Bestandteil des Systems. Je häufiger der Hohe Repräsentant eingriff, desto stärker richteten die einheimischen Akteure ihr Verhalten auf seine Präsenz aus. Kompromisse verloren ihre Logik, sobald endgültige Entscheidungen ohnehin von oben getroffen wurden. Politische Verantwortung verkümmerte, weil sie nicht mehr eingefordert wurde. Eine ganze Generation politischer Führer gewöhnte sich daran, unter der Erwartung externer Korrektur zu regieren. Das Amt, das ursprünglich Autonomie fördern sollte, wurde zu ihrem größten Hindernis.

Mit der Zeit verwandelte sich ein ursprünglich stabilisierender Mechanismus leise in ein Experiment postnationaler Steuerung, in ein Labor für die westliche Überzeugung, daß administrative Aufsicht politische Verantwortung dauerhaft ersetzen könne, daß demokratische Formen weiterbestehen könnten, selbst wenn demokratische Handlungsfähigkeit ausgesetzt wird, und daß ein Staat friedlich bleiben könne, ohne wirklich souverän zu sein, funktionierend, ohne frei zu werden.

Bosnien ist heute der lebende Beweis dafür, daß von oben konstruierte Stabilität erstaunlich dauerhaft sein kann und daß ihr Preis die unbestimmte Verschiebung echter Selbstregierung ist. Das Paradoxon verschärfte sich, als das Amt selbst aus dem internationalen rechtlichen Rahmen hinausdriftete, der es einst verankert hatte.

Christian Schmidt regiert wie ein absolutistischer König

Der jetzige Hohe Repräsentant, Christian Schmidt, wurde nie vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bestätigt. Rußland und China verweigerten die Anerkennung seiner Ernennung. Die westlichen Regierungen antworteten nicht mit dem Versuch, Legitimität wiederherzustellen, sondern mit der Behauptung, daß Legitimität nicht mehr erforderlich sei.

Christian Schmidt, ein ehemaliger deutscher Bundestagsabgeordneter und Bundesminister der Christlich-Sozialen Union, übt ein Amt aus, dessen Autorität heute vollständig auf westlicher Anerkennung beruht und nicht mehr auf dem universellen Mandat, das 1995 vorgesehen war. Bosnien wird damit von einem ausländischen Amtsträger regiert, dessen Autorität international bestritten, innerhalb des Landes jedoch durchsetzbar ist.

Schmidt regiert in der Gestalt eines kolonialen Verwalters, der Demokratie verkündet, während er absolute Macht ausübt. Es ist eine Ordnung, in der die formale Architektur der Souveränität durch die materielle Praxis der Herrschaft widerlegt wird.
Dieses Modell hat keinen wirklichen Vergleich. Andere Protektorate existieren, aber keines besitzt eine derart tief reichende verfassungsrechtliche Durchdringung. Besatzungen hat es gegeben, aber keine von ihnen trug den Anschein einer demokratisch verfaßten Ordnung. Internationale Treuhandschaften wurden erprobt, doch nie in ein System eingebettet, das sich nach außen als funktionierende konstitutionelle Demokratie darstellt.

Der Westen verwaltet Gehorsam und nennt das Konsens

Bosnien ist weder Kolonie noch Demokratie, weder souveräner Staat noch verwaltetes Territorium. Es wird durch eine Ordnung regiert, die sich keiner Kategorie eindeutig zuordnen läßt, weil sie nie dafür gedacht war, über ihren Übergangsmoment hinaus zu bestehen. Ihre fortgesetzte Existenz ist kein Ausdruck strategischer Planung, sondern politischer Erschöpfung. Sie hält an, weil Europa sich einen Balkan-Staat ohne Aufsicht nicht mehr vorstellen kann. Was wie Gewaltenteilung erscheint, ist in Wahrheit eine Befehlskette. Der Westen verwaltet Gehorsam und nennt das Konsens.

Eine ähnliche Zweideutigkeit prägt das Verfassungsgericht. Es soll die höchste Instanz des Rechtsstaats verkörpern, doch drei seiner Richter sind Ausländer, ernannt nicht von Bürgern, sondern von internationalen Akteuren. Im Laufe der Jahre hat sich das Gericht von einem verfassungsrechtlichen Schiedsrichter zu einem Instrument der Aufsicht entwickelt, das zentrale Bestimmungen nicht im Licht verhandelter Gleichgewichte auslegt, sondern nach der administrativen Logik der internationalen Präsenz.

In der Praxis hat sich das Gericht zu einer Verlängerung internationaler Aufsicht entwickelt, zu einer Instanz, deren Rechtsprechung nicht die Spannungen des inneren Pluralismus spiegelt, sondern die Prioritäten einer von außen getragenen Ordnung.

Die Konsequenzen dieses Systems wurden 2025 unübersehbar, als Milorad Dodik, der gewählte Präsident der Republika Srpska, auf Grundlage eines Gesetzes verurteilt wurde, das es vorher nicht gab und das Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant, eigens dafür erlassen hatte. Der Vorfall offenbarte keine Fehlfunktion, sondern die innere Logik einer Ordnung, die auf delegierter Autorität beruht und nicht auf demokratischem Mandat.

Ein komplett absurdes System

In jedem konstitutionellen System entsteht Gesetzgebung im Parlament, wird durch die Exekutive vollzogen und durch die Justiz überprüft. Diese drei Funktionen sind getrennt, nicht aus prozeduralem Eifer, sondern um jene Machtkonzentration zu verhindern, die Legalität in ein Disziplinierungsinstrument verwandelt. In Bosnien ist der Hohe Repräsentant schrittweise zu allen drei Gewalten geworden. Er schreibt das Gesetz, er vollzieht es, und er entzieht sich jeder gerichtlichen Kontrolle.

Die Absurdität des Systems trat in jenem Jahr vollständig zutage. Als Dodik sich weigerte, ein Dekret Christian Schmidts zu veröffentlichen, suchte der Hohe Repräsentant weder politische Verhandlung noch richterliche Klärung. Stattdessen änderte er das Strafgesetzbuch ex post facto, um die Nichtbefolgung seiner eigenen Anordnungen strafbar zu machen.

Die Ermittlungsbehörden eröffneten daraufhin Verfahren nicht unter einem Gesetz, das von einer gewählten Legislative debattiert und verabschiedet worden war, sondern unter einer Bestimmung, die ausschließlich existierte, weil der Hohe Repräsentant sie entworfen, erlassen und verkündet hatte. Dodik wurde verfolgt, vor Gericht gestellt und verurteilt auf Grundlage eines rechtlichen Instruments, das von dem Beamten geschaffen worden war, dessen Autorität er bestritten hatte. Es war ein Vorgang, der selbst ein Militärgericht in einer Bananenrepublik beschämen würde.

Das Gericht erklärte mit zeremonieller Frömmigkeit, daß es keine Zuständigkeit besitze, die Rechtmäßigkeit der Handlungen des Hohen Repräsentanten zu überprüfen. Es behandelte dessen Dekrete nicht als Verwaltungsakte, die der richterlichen Kontrolle unterliegen, sondern als eine externe normative Macht jenseits der Reichweite der Verfassung selbst.

Grundlegende Änderungen der politischen Landschaft

Ein gewählter Präsident wurde damit von einem ausländischen Administrator aus dem Amt entfernt, mittels eines Gesetzes, das dieser Administrator selbst geschaffen hatte, durchgesetzt von Institutionen, die er faktisch kontrolliert, und geschützt vor Überprüfung durch eine Rechtsprechung, die ihre eigene Unterordnung anerkennt. Nichts an dieser Abfolge war eine Abweichung. Sie spiegelte die konstitutionelle Struktur des Bosnien der Nach-Dayton-Ära in ihrer reinsten Form. Dies war kein Scheitern des Rechtsstaats. Es war der Rechtsstaat, der genau so arbeitete, wie er entworfen worden war, unter Bedingungen äußerer Herrschaft.

Die Entscheidung veränderte die politische Landschaft grundlegend. Die Zentralwahlkommission annullierte Dodiks Mandat, und ein Interimsbeamter übernahm die Präsidentschaft. Neue Wahlen in der Republika Srpska wurden durch eine Abfolge von Maßnahmen angesetzt, die nicht aus innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Verfahren hervorgingen, sondern aus einer externen Autorität, deren eigenes Gesetz den Prozeß ausgelöst hatte.Die Abstimmung wurde zu einem Referendum über die Legitimität der gesamten Aufsichtsordnung. Selbst Dodiks Gegner erkannten, dass dieser Vorgang die Grenze zwischen einheimischer Selbstregierung und internationaler Administration endgültig verwischt hatte.

Die internationalen Reaktionen legten tiefere Widersprüche offen. Westliche Diplomaten bezeichneten den Fall als Triumph des Rechtsstaats, während sie sich auf eine Bestimmung stützten, die vollständig außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens des Landes geschaffen worden war. Europäische Beamte beschworen richterliche Unabhängigkeit, während sie eine Institution verteidigten, die sich jeder richterlichen Kontrolle entzieht.

Die USA ziehen sich zurück

Washington wählte einen vorsichtigen Ton, begann jedoch im Stillen, die Wirksamkeit seiner Zwangsmaßnahmen zu hinterfragen, und hob schließlich Sanktionen auf, in Anerkennung ihres schwindenden strategischen Werts. In Sarajevo erklärten politische Eliten, das Urteil bestätige die Autorität des Staates. In Banja Luka sah man darin hingegen den Beweis, daß die zentralen Institutionen nur funktionieren, solange ein externer Garant ihre Entscheidungen durchsetzt.

Die Bedeutung des Vorgangs liegt nicht im Schicksal eines Politikers, sondern in der Offenlegung eines Systems, in dem Macht formal verteilt ist, Autorität jedoch in den Händen eines ausländischen Amtsträgers zusammenläuft. Er zeigte, daß sich politischer Konflikt in Bosnien nicht innerhalb einer souveränen verfassungsrechtlichen Ordnung entfaltet, sondern innerhalb einer gestuften Hierarchie, in der die letztgültige Zwangsgewalt international geblieben ist. Er zeigte auch, daß der Mechanismus, der einst geschaffen wurde, um Frieden zu sichern, heute politische Entfremdung erzeugt und das Misstrauen zwischen jenen Gemeinschaften vertieft, deren Kooperation für jede stabile Demokratie unerläßlich wäre.

Washington hat das Amt des Hohen Repräsentanten nicht abgeschafft, aber es ist von aktiver Unterstützung zu strategischer Begrenzung übergegangen. Die Vereinigten Staaten blockieren stillschweigend expansive Eingriffe und signalisieren, daß die Architektur internationaler Aufsicht ihren geopolitischen Moment nicht überdauern kann. Die amerikanische Diplomatie spricht inzwischen von verantwortlichem Übergang, gesteuertem Rückzug und kontrolliertem Ausstieg im kommenden politischen Zyklus.

Neue geopolitische Konfliktlinien

Der Wandel in Washingtons Haltung gegenüber Bosnien im Jahr 2025 markierte einen Wendepunkt nicht nur für das Land selbst, sondern für die gesamte Nachkriegsphilosophie, die das amerikanische Engagement auf dem Balkan über Jahrzehnte geprägt hatte. Fast drei Jahrzehnte lang sahen die Vereinigten Staaten in Bosnien eine Art moralische Verantwortung für einen Krieg, den sie zu spät beendeten und dessen politische Ordnung sie deshalb in ihre Obhut nahmen. Bosnien wurde zum Schauplatz des westlichen Experiments, wonach Nachkriegsgesellschaften durch eine Mischung aus internationaler Aufsicht, verfassungsrechtlicher Konstruktion und externer Disziplin stabilisiert werden könnten.

Dieser Glaube setzte jedoch eine unipolare Welt voraus, eine geopolitische Lage, in der amerikanische Macht nahezu unbegrenzt ausgedehnt werden konnte, ohne strategische Kosten zu erzeugen. 2025 war diese Welt verschwunden. Washingtons Aufmerksamkeit hatte sich entschieden nach Osteuropa und in den Indopazifik verlagert. Der Krieg in der Ukraine, der Aufstieg Chinas und die schwindende militärische Dominanz der Vereinigten Staaten ließen kaum noch Raum für ein Balkanprotektorat, das im moralischen Vokabular der neunziger Jahre stecken geblieben war.

Europa ist auf den Wandel nicht vorbereitet

Die stille Entscheidung, die Sanktionen gegen Dodik aufzuheben, spiegelte genau diese strategische Verschiebung. Sie bedeutete keine Unterstützung eines lokalen Akteurs, sondern die Anerkennung, daß Zwangswerkzeuge keine verläßlichen Ergebnisse mehr erzeugten und daß die nach Dayton errichtete Architektur der Durchsetzung nicht länger mit den amerikanischen Prioritäten harmonierte. Washingtons Schritt signalisierte, daß die Vereinigten Staaten nicht mehr gewillt waren, die täglichen Mechanismen eines verfassungsrechtlichen Systems durchzusetzen, dessen Fortbestand vor allem Europa verlangte.

Es war ein Bruch mit der Vorstellung, Bosnien brauche eine permanente politische Vormundschaft. Washington löste moralische Erwartungen durch pragmatische Stabilität ab. Anstatt die politische Klasse weiter zu lenken, trat es zurück und ließ die inneren Kräfte des Landes wieder direkt aufeinander wirken.

Europa war auf diesen Wandel nicht vorbereitet, weil die Europäische Union sich daran gewöhnt hatte, die amerikanische Präsenz als Rückgrat ihrer Balkanstrategie zu betrachten. Die europäische Politik gegenüber Bosnien war nie vollständig autonom. Sie beruhte auf dem Vertrauen, da Washington im Zweifel Stabilität garantieren würde, wenn europäisches Management versagte.

Moralismus ohne Souveränität, Aufsicht ohne Ende

Als die Vereinigten Staaten begannen, sich aus dieser Rolle zurückzuziehen, trat die Unfähigkeit der EU hervor, strategische Verantwortung selbst zu übernehmen. Brüssel hatte seinen Einfluß auf Verfahren aufgebaut, nicht auf Macht. Es beherrschte die Kunst, Dialoge zu koordinieren, Fahrpläne zu entwerfen und Kommuniqués zu formulieren, doch es fehlte ihm an politischer Einheit und geopolitischem Gewicht, um amerikanische Autorität zu ersetzen.

Deutschlands Beharren auf der Fortführung des Hohen Repräsentanten spiegelte nicht strategische Klarheit, sondern strategische Abhängigkeit. Es kaschierte das Fehlen einer europäischen Alternative durch die Verlängerung eines Mechanismus, der in einer Zeit geschaffen worden war, in der Europa ohne amerikanische Initiative kaum handlungsfähig war.

Für europäische Politiker, insbesondere in Berlin, verstärkte diese Abhängigkeit eine Bindung an das moralische Vokabular der neunziger Jahre. Sie behandeln den Hohen Repräsentanten nicht als provisorischen Mechanismus, sondern als Hüter der Stabilität. Was einst entworfen wurde, um einen Krieg zu stoppen, ist in der europäischen Vorstellung zur Voraussetzung politischer Ordnung geworden. Es ist eine Weltanschauung, die in der Zeit erstarrt ist: Moralismus ohne Souveränität, Aufsicht ohne Ende.

2025 markiert einen Bruch

Das Jahr 2025 markierte einen tieferen Bruch, weil sichtbar wurde, daß Bosnien nicht länger ein zentrales Schau­feld westlicher moralischer Identität war. In den neunziger Jahren war die amerikanische Intervention auf dem Balkan als moralischer Test der neuen Nachkriegsordnung verstanden worden. Bosnien galt als der Ort, an dem der Westen glaubte, beweisen zu können, daß Gräuel nicht nach Europa zurückkehren würden.

Die strategische Landschaft des Jahres 2025 ließ solche Experimente nicht mehr zu. Die Vereinigten Staaten sahen sich gleichzeitigen Krisen und aufsteigenden Mächten gegenüber. Sie hatten nicht mehr den Luxus, aufwendige Aufsichtsstrukturen in Regionen aufrechtzuerhalten, in denen ihre grundlegenden Interessen begrenzt waren. Bosnien, einst symbolisch zentral in der westlichen Erzählung, war in die Kategorie geerbter Verpflichtungen gerückt, die weder besondere Aufmerksamkeit noch erhebliche Ressourcen rechtfertigten.

Diese Neuausrichtung war kein Rückzug, sondern eine Verschiebung strategischer Prioritäten. Sie entsprach der Logik einer multipolaren Welt, in der selbst Großmächte selektiv handeln müssen. Washington machte durch seine Entscheidungen deutlich, daß Bosniens Stabilität künftig primär von lokaler Verantwortung und regionaler Diplomatie abhängen würde, nicht mehr von amerikanischer Durchsetzung.

Divergenz zwischen amerikanischem Realismus und europäischer Vormundschaft

Die Botschaft lautete, daß die Ära eines von außen aufrechterhaltenen Gleichgewichts zu Ende gegangen war. Wenn Bosnien als Staat funktionieren soll, muß es die Folgen seiner eigenen politischen Entscheidungen tragen, produktive wie destruktive. Die Vereinigten Staaten suchten nicht mehr, Ergebnisse zu formen, sondern Verstrickungen zu vermeiden.

Europa deutete diesen amerikanischen Wandel jedoch nicht als strukturelle Anpassung, sondern als entstehendes Vakuum. Sein Reflex war, die administrative Kontrolle zu verstärken, darauf zu bestehen, daß der Hohe Repräsentant die Achse bleibt, um die sich das gesamte System dreht, und Bosnien weiterhin als fragiles Mündel zu behandeln, das ohne Aufsicht nicht bestehen könne.

Diese Divergenz zwischen amerikanischem Realismus und europäischer Vormundschaft legte den philosophischen Bruch im Herzen der westlichen Allianz offen. Washington betrachtet Souveränität als etwas, das früher oder später ausgeübt werden muß. Europa betrachtet Souveränität als etwas, das zu gefährlich sei, um es zu gewähren. Washington bewegt sich auf eine Welt zu, die durch Macht, Wettbewerb und harte Entscheidungen geprägt ist. Europa hält an der Vorstellung fest, daß Konflikte durch fortwährende Aufsicht gemanagt werden können.

Zurück bleibt eine neue geopolitische Realität

Die strategische Neuausrichtung der USA machte Bosnien erneut zu einem geopolitischen Symbol, diesmal nicht für humanitäres Eingreifen, sondern für westliche Uneinigkeit. Das Land steht heute zwischen zwei verblassenden Vorstellungen von Ordnung. Die amerikanische Vision, die Bosnien einst in den Bereich moralischer Experimente erhob, ist strategischer Zurückhaltung gewichen. Die europäische Vision, die lange von amerikanischer Macht getragen wurde, ringt damit, ihre Instrumente ohne den Partner aufrechtzuerhalten, der sie einst möglich machte.

Das Jahr 2025 bedeutete keine bloße Anpassung der Politik. Es markierte das Ende einer Ära, in der Bosnien als Bühne diente, auf der der Westen sein moralisches Drama inszenierte. Zurück bleibt eine geopolitische Realität, in der das Land die Verantwortung der Souveränität selbst tragen muß, weil die Welt, die ihm diese Verantwortung einst verweigerte, kein Interesse mehr hat, sie zu übernehmen.

Jedes der drei konstituierenden Völker deutet die Nachkriegsordnung nicht durch abstrakte verfassungsrechtliche Kategorien, sondern durch die Wunden und Ängste, die ihre jeweilige Erfahrung des Konflikts geprägt haben. Dayton schuf keine Ordnung, die von allen auf die gleiche Weise getragen werden konnte. Es schuf einen Rahmen, den jede Gemeinschaft durch die Erinnerung an ihr eigenes Überleben liest. Für die Bosniaken, die die größten demographischen Verluste erlitten und die territoriale Zersplitterung des Landes einst als direkte Bedrohung ihrer physischen Existenz erfuhren, ist Dayton vor allem eine Garantie gegen Teilung. Das Abkommen erscheint ihnen als Schutzschild, das die Auflösung eines Staates verhindert, dessen Zusammenbruch einst unmittelbar bevorstand.

Eine heimliche Diskriminierung der Kroaten

Die Komplexität des institutionellen Systems, die Vielzahl der Vetorechte und die schwerfälligen Verfahren gelten als akzeptable Kosten, weil sie die territoriale Kontinuität Bosnien und Herzegowinas sichern. In der bosniakischen Erzählung ist Dayton unvollkommen, aber notwendig, ein Kompromiß, der den Krieg stoppte und den man gegen jeden Versuch verteidigen muß, die zentralen Institutionen zu schwächen. Hinter dieser Sicht steht eine tiefe Angst, daß Dezentralisierung nur der langsame Weg zur Auflösung sei, eine Angst, die durch die Erinnerung an einen Krieg verstärkt wird, in dem Geographie über Leben und Tod entschied.

Die kroatische Perspektive entsteht aus der entgegengesetzten Erfahrung. Die Kroaten bilden das kleinste der drei Völker und leben überwiegend in Regionen, in denen ihr Wahlgewicht regelmäßig von bosniakischen Mehrheiten überlagert wird. Theoretisch stellte Dayton sie auf die gleiche verfassungsrechtliche Stufe wie die anderen Gruppen. In der Praxis gewährte es ihnen Gleichheit ohne politisches Gewicht.

Die wiederholte Wahl eines kroatischen Mitglieds der Staatspräsidentschaft durch bosniakische Wähler, gegen die Präferenz kroatischer Wahlkreise, bestätigte das Gefühl, daß das System sie symbolisch anerkennt, aber nicht substantiell. Viele ihrer Gemeinden werden von Koalitionen regiert, die ihre demographische Realität nicht widerspiegeln, und die föderale Struktur läßt ihnen nur begrenzten Einfluß.

Strukturelle Marginalisierung

Für viele Kroaten ist Dayton daher kein schützendes Arrangement, sondern ein unerfülltes Versprechen. Es bietet Anerkennung ohne Einfluß, Status ohne Sicherheit. Was sie durch eine Reform des Wahlrechts anstreben, ist keine Revision des Friedens, sondern die Wiederherstellung seines ursprünglichen Gleichgewichts. Sie sehen sich als die kleinste, aber zugleich am stärksten exponierte Gemeinschaft, eine Brücke zwischen Westbalkan und Mitteleuropa, doch behandelt als verzichtbarer Bestandteil eines Systems, das darauf angelegt ist, die größeren Akteure nicht zu verärgern.

Diese Erfahrung struktureller Marginalisierung wird durch ein wiederkehrendes Wahlphänomen verstärkt, das zum sichtbarsten Symbol kroatischer politischer Ohnmacht geworden ist. Die Staatspräsidentschaft Bosnien und Herzegowinas beruht auf der Prämisse, daß jedes konstituierende Volk seinen eigenen Vertreter wählt. Die Logik dahinter ist einfach und elementar.

In der bosnischen Verfassung sind die konstituierenden Völker keine kulturellen Kategorien, sondern verfassungsrechtliche Subjekte mit kollektiven politischen Rechten. Das bosniakische Mitglied repräsentiert die Bosniaken, das serbische Mitglied die Serben und das kroatische Mitglied die Kroaten.

Das Vertrauen in den Staat erodiert

Diese Konstruktion sollte Gleichgewicht, Anerkennung und wechselseitige Sicherheit garantieren für Gruppen, die erschöpft und zutiefst mißtrauisch in den Frieden eintraten. Sie war eine der zentralen Schutzvorkehrungen Daytons, ein Mechanismus, der Mehrheitsdominanz verhindern und sicherstellen sollte, daß Souveränität immer geteilt bleibt.

In der Praxis wurde dieses Prinzip systematisch ausgehöhlt. Željko Komšić, der den kroatischen Sitz in der Präsidentschaft innehat, wurde mehrfach nahezu ausschließlich durch bosniakische Wähler ins Amt getragen. Seine Wahlsiege sind numerisch legitim, politisch jedoch verheerend, weil sie die verfassungsrechtliche Logik entleeren. Die kroatischen Wahlkreise lehnen ihn weitgehend ab, doch er gelangt wiederholt durch die Unterstützung jener demographischen Mehrheit ins Amt, deren Durchschlagskraft Dayton ausdrücklich begrenzen sollte. Ein Mechanismus, der Gleichheit sichern sollte, ist so zu einem Instrument majoritärer Hebelwirkung geworden.

Für viele Kroaten bestätigt jede Wahl Komšićs, daß ihre formalen Rechte nicht in substantielle Repräsentation übersetzt werden und daß ihr Status als konstituierendes Volk sprachlich anerkannt, aber praktisch ausgehöhlt ist. Die Folgen dieser Dynamik haben das kroatische Vertrauen in den Staat tiefer erodiert als jeder legislative Streit oder institutionelle Konflikt.

Kroaten fordern Wiederherstellung der Parität

Die Kroaten sehen Bosnien und Herzegowina zunehmend als eine Ordnung, in der ihr politischer Einfluß nach Belieben ausgehebelt werden kann. Ihre Forderung nach einer Reform des Wahlrechts ist daher kein nationalistisches Projekt, sondern ein Appell zur Wiederherstellung der Parität, die Dayton zugesichert hatte. Sie bestehen darauf, daß keine Gemeinschaft als gleich gelten kann, wenn sie nicht die Fähigkeit besitzt, jene Person zu wählen, die in ihrem Namen spricht.

Die kroatische Erzählung der Frustration entspringt nicht sezessionistischen Absichten, sondern der Erfahrung, von einem Vertreter repräsentiert zu werden, der gegen ihren überwältigenden Willen gewählt wurde. Es ist das deutlichste Beispiel dafür, wie ein System, das geschaffen wurde, um alle Gruppen zu schützen, allmählich dazu übergegangen ist, die eine auf Kosten der anderen zu privilegieren.

Das Phänomen „Komšić“ ist daher mehr als eine Wahlanomalie. Es ist das sichtbarste Zeichen dafür, daß das in Dayton vorgesehene Gleichgewicht aus den Fugen geraten ist, daß eine Gruppe die Möglichkeit erlangt hat, die Repräsentation einer anderen zu bestimmen, und daß die internationalen Hüter des Systems nicht bereit sind, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren, weil eine Korrektur die Zerbrechlichkeit jener Ordnung offenlegen würde, die sie zu bewahren versuchen.

Gesetze werden ohne parlamentarische Autorität umgeschrieben

Westliche Diplomaten äußern in regelmäßigen Abständen Verständnis für dieses Anliegen, doch kein Hoher Repräsentant hat jemals gewagt, eine Lösung durchzusetzen, und kein EU-Verhandlungskapitel wurde je an seine Behebung geknüpft. Das Ungleichgewicht wird als bedauerlicher, aber unveränderlicher Fakt des demographischen Lebens behandelt – zu explosiv, um es anzutasten, zu offensichtlich, um es zu ignorieren.

Die serbische Interpretation von Dayton wurzelt in einer eigenen historischen Erinnerung. Für die Serben ist das Friedensabkommen kein abstrakter verfassungsrechtlicher Text, sondern ein Vertrag, der die politische Autonomie der Republika Srpska garantierte und die Grenzen staatlicher Autorität festlegte. Die Nachkriegsjahrzehnte erscheinen ihnen nicht als natürliche institutionelle Entwicklung, sondern als schrittweise Erosion eben dieses Vertrags.

Kompetenzen, die einst den Entitäten zustanden, wurden durch Entscheidungen des Hohen Repräsentanten nach oben verlagert, nicht durch einheimischen Konsens. Gesetze wurden ohne parlamentarische Autorität umgeschrieben, Beamte ohne gerichtliche Kontrolle entlassen und staatliche Strukturen durch Mechanismen erweitert, die im ursprünglichen Abkommen keine Grundlage hatten.

Unvereinbare historische Erinnerungen

Was als System geteilter Macht gedacht war, wurde aus ihrer Sicht zu einer langsamen Zentralisierung, durchgeführt von einer externen Autorität. Die Verteidigung der Autonomie der Entität gilt ihnen daher nicht als Ausdruck von Sezessionismus, sondern als verfassungsrechtliche Treue, als Weigerung, eine verhandelte Ordnung in ein formbares Instrument zu verwandeln, das nach Belieben internationaler Akteure ausgelegt wird.

Diese drei Interpretationen stehen nicht einfach nebeneinander, sondern geraten bei jeder institutionellen Frage unweigerlich in Konflikt. Die bosniakische Angst vor territorialer Fragmentierung prallt auf die kroatische Angst vor politischer Marginalisierung. Die kroatische Forderung nach institutioneller Gleichheit trifft auf die bosniakische Vorstellung pluralistischer Repräsentation. Das serbische Festhalten an den ursprünglichen Vereinbarungen von Dayton kollidiert mit dem westlichen Anspruch, das Abkommen funktional weiterzuentwickeln.

Bosnien operiert daher nicht auf der Grundlage geteilter verfassungsrechtlicher Prinzipien, sondern auf drei unvereinbaren historischen Erinnerungen. Jede Gemeinschaft verteidigt nicht nur ihre Interessen, sondern eine eigene Vorstellung davon, was der Staat überhaupt sein soll. Die Architektur des Landes ist untrennbar mit der emotionalen Geographie des Krieges verbunden. Dayton fror die Frontlinien ein, aber es harmonisierte nicht die Narrative, die daraus entstanden. Das politische System ist eine Ordnung, in der drei unterschiedliche Auffassungen von Souveränität unter einem einzigen rechtlichen Dach koexistieren, jede überzeugt, daß nur ihre Version jenes Gleichgewicht schützt, das ihr Überleben sichern kann.

Keine Demokratie würden einen ausländischen Amtsträger dulden

Aus dieser Konfliktgeographie entsteht die eigentliche Bruchlinie, die Kollision zweier Vorstellungen politischer Ordnung. Die eine behauptet, daß Souveränität unbegrenzt konstruiert und beaufsichtigt werden könne. Die andere hält daran fest, daß Souveränität, selbst unvollkommen, ausgeübt werden muß, wenn ein Staat je vom Objekt internationalen Managements zu einem politischen Subjekt werden soll.

Die Vereinigten Staaten bewegen sich behutsam in Richtung jenes Verständnisses, das Souveränität letztlich ausgeübt werden muß. Europa hält an der Überzeugung fest, daß sie unbegrenzt konstruiert und beaufsichtigt werden kann.

Keine Demokratie würde einen nicht gewählten ausländischen Amtsträger akzeptieren, der ermächtigt ist, Gouverneure abzusetzen, Gesetze nach Belieben umzuschreiben, Entscheidungen des Verfassungsgerichts außer Kraft zu setzen und gewählte Vertreter ohne gerichtliche Kontrolle zu sanktionieren. Doch genau dies bildet weiterhin den alltäglichen verfassungsrechtlichen Zustand von Bosnien und Herzegowina.

Die Subastanz der Souveränität fehlt

Das Jubiläum des Dayton-Abkommens ist daher keine Feier des Friedens, sondern eine Mahnung. Es erinnert an die Grenzen verwalteter Souveränität, an die Illusion dauerhafter externer Kontrolle und an die politische Unreife, die entsteht, wenn einem Land zu lange die Verantwortung für sein eigenes Schicksal entzogen wird.

Die gegenwärtige Stabilität des Landes wirkt hohl, solange ihr die Substanz der Souveränität fehlt. Stabilität ohne Freiheit kann nicht von Dauer sein. Sie ist ein Aufschub, eine sorgfältig verwaltete Unterbrechung, in der Selbstregierung nur als Möglichkeit existiert und auf jenen Moment wartet, in dem die äußeren Hüter zurücktreten und das Gemeinwesen selbst entscheiden muß, welche politische Form es anzunehmen bereit ist.

Bosnien und Herzegowina benötigt keine vertiefte Aufsicht. Es benötigt die Rückgabe politischer Verantwortung an jene, die mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen leben müssen. Dreißig Jahre nach Dayton herrscht Frieden, aber die Souveränität ist nicht wiederhergestellt. Ein politisches Gemeinwesen kann nicht erwachsen werden, solange eine fremde Hand seine Entscheidungen steuert. Souveränität hat nur dort Bestand, wo sie im eigenen Handeln verankert ist.

>> Dieser Text erschien zuerst im American Postliberal.

Christian Schmidt und Außenminister Wadephul (r.): Faktisch ein Diktator. Foto: picture alliance/dpa | Michael Kappeler
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