Woran liegt es nur, daß wir uns so schwertun, würdig der Gründung des Deutschen Reiches vor 150 Jahren zu gedenken? Warum gibt es keine Sondersitzung des Bundestages, keine Sondermarke der Post? Andererseits: Denkt nicht ein im Jahr 2000 geborener Deutscher, wenn er von der Proklamation des Kaisers am 18. Januar 1871 in Versailles hört: Sind das Grüße aus der Gruft einer längst – und verdient? – untergegangenen Ordnung?
Das Bewußtsein muß offenbar erst mühsam wieder wachgerufen werden, daß durch den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck nicht irgendein längst verdämmertes Reich, sondern im Kern der moderne deutsche Nationalstaat gegründet wurde. Dies drückt sich für manchen überraschend in der Tatsache aus, daß die Bundesrepublik nicht etwa nur entfernt verwandt, sondern sogar mit dem Bismarckreich „rechtsidentisch“ ist. Dies sah sich das Bundesverfassungsgericht gezwungen, mehrere Male festzustellen. Das heißt: Wir kommen nicht aus unserer Haut. Unser Staat ist nicht wie ein Ufo im Jahr 1949 gelandet – er ist schon seit 150 Jahren da.
Sogar SPD-Kanzler Willy Brandt ehrte Bismarck
Bundeskanzlerin Angela Merkel steht mithin, ob sie will oder nicht, auf den Schultern des Eisernen Kanzlers. Insofern ist es rührend, wenn linke Bilderstürmer jüngst wieder das Schleifen von Denkmälern des Architekten des deutschen Einheitsstaates fordern, den der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt 1971 noch als „einen der größten Staatsmänner unseres Volkes“ würdigte. Mit rund 700 Denkmalen ist Bismarck nebenbei der mit Abstand meistgeehrte Deutsche.
Die Verlegenheit, mit der das offizielle Deutschland dem Jubiläum seiner staatlichen Gründung vor 150 Jahren begegnet, hat mit den Niederlagen in den Weltkriegen und vor allem dem moralischen Bankrott unter der Hitler-Diktatur zu tun. Der totale Zusammenbruch vom 8. Mai 1945 warf die Frage auf, ob „Die deutsche Katastrophe“, wie der Historiker Friedrich Meinecke eine 1946 veröffentlichte Abhandlung nannte, nicht in diesem 18. Januar 1871 und seiner Vorgeschichte ihren Ursprung hat. Es war dennoch unstrittig, daß sich die Bundesrepublik in einer staatlichen Kontinuität sah. Dies kommt in ihren nationalen Symbolen (Adler und Eisernes Kreuz) sinnbildlich zum Ausdruck.
Zum eigentlichen geschichtspolitischen Bruch kam es erst mit der radikalen Umdeutung der deutschen Geschichte im Gefolge der 68er-Kulturrevolution, die auf die grundsätzliche Absage an eine Nationalgeschichte, an den historischen Sinn einer Nation als Wert überhaupt hinausläuft. Indessen arbeiten Historiker die Bedeutung des Nationalstaates und der Leistung Bismarcks neu heraus. Hedwig Richter („Demokratie – eine deutsche Affäre“) brachte gerade auf den Punkt, wie die Nation „Identität, Zugehörigkeit, in gewisser Weise Geborgenheit“ schenke: „Ohne nationale Identität wäre das Parlament nicht praktikabel gewesen.“
Die Dampfkraft ließ Deutschlands Distanzen schrumpfen
Die napoleonische Besetzung Europas hatte Anfang des 19. Jahrhunderts die Modernisierung deutscher Länder erzwungen. Die preußischen Reformen, die Befreiungskriege 1813/14 waren die Geburtsstunde der Nationalbewegung in Deutschland. Der Ruf nach Einheit wurde immer lauter. Doch wem sollte der Wurf gelingen? Der patriotische Dichter Heinrich Heine hatte zu Recht die unpolitische deutsche Weltflucht ätzend kritisiert: Die von Nationalromantikern besungene „deutsche Seele“ sei stolz auf ihren Flug „in nächtlichen Träumen“. Während den Franzosen und Russen das Land gehöre, den Briten das Meer, besäßen die Deutschen „im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten“. Mit Bismarck nahm Deutschland endlich staatliche Gestalt an und wurde zum historischen Subjekt.
Im Angesicht der Göltzschtalbrücke im sächsischen Vogtland, der größten Backsteinbrücke der Welt, läßt sich erahnen, in welche ungeheure Beschleunigung Deutschland und Europa durch die Entfesselung der Dampfkraft Anfang des 19. Jahrhunderts eingetreten war. Das im Auftrag der Sächsisch-Bayerischen Eisenbahn-Compagnie 1851 fertiggestellte, mit 98 Bögen fast 600 Meter überspannende atemberaubende Bauwerk, das die Strecke von Leipzig zum bayerischen Hof schließen half, symbolisiert, mit welchem rasanten Tempo die Distanzen im noch zersplitterten Deutschland schrumpfen sollten.
Die Eisenbahn, die Telegrafie und die bald einsetzende Elektrifizierung ließen die industrielle Entwicklung auf dem Kontinent schier explodieren. Es war zwingend, daß diese technisch-ökonomische Revolution zu einer größeren staatlichen Einheit führen mußte und der Zustand beendet wurde, daß das zersplitterte Deutschland Turnierplatz und Spielball der Großmächte blieb.
Das Deutsche Reich war einer der modernsten Staaten der Welt
Das Deutsche Reich wurde einer der modernsten Staaten der Welt. So sehr Bismarck ursprünglich ein erzkonservativer Junker war: Er hatte erkannt, daß die herkömmlichen Strukturen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung nicht mehr gewachsen waren und nach dem Fehlschlag der demokratischen Nationalbewegung 1848/49 Preußen die Initiative übernehmen mußte, das auf der Hand liegende zu organisieren: die unter den Bedingungen der Zeit realpolitisch machbare Staatlichkeit der deutschen Nation.
Die Vorstellung, wir befänden uns nun heute in einer postnationalen Epoche, widerlegt die aktuelle Lage. So sehr die europäische Kooperation eine richtige Lehre aus zwei Weltkriegen ist, kann von einer die nationale ersetzenden europäischen Identität keine Rede sein. Es gibt keine echte Alternative zum Erfolgsmodell der Nation als Garant des Rechts- und Sozialstaates und der Demokratie. Ernstfälle wie die Asylkrise seit 2015 und die Corona-Krise zeigen, wie die politischen Akteure auf den Nationalstaat zurückgeworfen werden. Zur Verantwortung ziehen schließlich die Bürger nicht eine anonyme Brüsseler Bürokratie, sondern nach wie vor ihre nationalen Regierungen.
JF 3/21