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Coronavirus und Gesellschaft: Augenmaß statt Paranoia

Coronavirus und Gesellschaft: Augenmaß statt Paranoia

Coronavirus und Gesellschaft: Augenmaß statt Paranoia

Fahrgäste tragen in der S-Bahn von Hannover einen Mund-und Nasenschutz. Foto picture alliance/Ole Spata/dpa
Coronavirus und Gesellschaft
 

Augenmaß statt Paranoia

Maske, Abstand, Beschränkungs- und Begrenzungsrituale - mit Eifer wird darüber gewacht, wer sich wie an die Gebote hält, wer innere Distanz verrät oder gar offen dagegen aufbegehrt. Doch ein Staat, der das Leben seiner Bürger umfassend an sich zieht und mit Vorschriften durchdringt, ist übergriffig. Zwang und Regulierung müssen das letzte Mittel sein, nicht die erste Option. Ein Kommentar von Michael Paulwitz.
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In vielen Teilen der Welt, und besonders im saturierten Westen, ist die Corona-Krise in eine monothematische Daueraufgeregtheit eingemündet. Im überängstlichen wie perfektionsbesessenen Deutschland bestimmt eine chronische Grundhysterie am Rande der Kollektivparanoia das Klima.

Maske, Abstand, Beschränkungs- und Begrenzungsrituale sind die Fetische eines regelrechten Glaubenskrieges, der sich daran entzündet. Mit religiösem Eifer wird darüber gewacht, wer sich wie inbrünstig an die Gebote hält, wer innere Distanz verrät oder gar offen dagegen aufbegehrt; den einen können Verbote, Sanktionen und Verdammungen gar nicht weit genug gehen, Aufpasser und Denunzianten liefern sich ebenso wie politische Einpeitscher regelrechte Überbietungswettbewerbe, ganze Medienkohorten verstehen sich in erster Linie als Zuchtmeister und Oberlehrer, Widerspruch und Zweifel an den Vorgaben der politischen Taktschläger und ihren prophetisch raunenden professoralen Stichwortgebern stehen im Ruch der Ketzerei, und das moralisch aufgeladene Totschlagvokabular eskaliert.

Neuartiges Coronavirus gefährlicher als übliche Influenzaerreger

In derartiger Gestimmtheit ist rationales Abwägen kaum noch möglich. Fraglos, das neue Coronavirus Sars-CoV-2 ist gefährlicher als übliche – und mit ihm verwandte – Influenza- oder Grippeerreger, die alljährlich übers Land ziehen. Daß man die Bedrohung erst ignoriert, dann überschätzt und in der Folge überreagiert hat, ist noch nachvollziehbar. Daß man trotz aller seither gewonnenen Erkenntnisse – nur wenige, und meist erheblich Vorbelastete, trifft es wirklich schwer, an der übergroßen Mehrheit auch der „Infizierten“ zieht es spurlos vorüber – mit einem komplexen Wirrwarr an Verboten und „Lockerungen“ und fragwürdigen Vermummungs- und Kontaktbeschränkungs-Kollektivritualen künstlich einen Daueralarmismus wie in einem Endzeitfilm aufrechterhält, erscheint hingegen zunehmend absurd.

Wir verlieren uns in Diskussionen, ob ein Bundespräsident mit oder ohne Gesichtstuch mit anderen und wie nahe beisammenstehen soll, ob Demonstranten sich vermummen und vereinzeln müssen oder nicht, und wenn, dann welche, wieviele Aufpasser und welche drakonische Strafen noch nötig wären, damit auch wirklich jeder Fahrgast in Bus und Bahn das Maskenritual mitmacht. Man zählt „Infizierte“, setzt sie aber nicht in Relation zu den tatsächlich Erkrankten, man sucht fieberhaft Indizien für eine „zweite Welle“, aber nicht für Entlastung und Entwarnung.

Schleichende Verstaatlichung weiter Lebens- und Wirtschaftsbereiche

Darüber geraten – von einigen, die diese Debatten befeuern, zweifellos auch so gewollt – drängendere Fragen in den Hintergrund. Was wird mit den gigantischen Schuldenbergen, die zur Rechtfertigung der ergriffenen extremen Maßnahmen aufgehäuft werden? Wohin führen die nationalen und europäischen Rechts- und Verfassungsbrüche, die dafür in Kauf genommen werden – Billionentransfers und Schuldenunion, schleichende Verstaatlichung weiter Lebens- und Wirtschaftsbereiche, das Beschneiden von Bürger- und Eigentumsrechten, die neu aufgehäuften Staatskompetenzen – all das, was in den vergangenen Wochen und Monaten an der panikstarren Bevölkerung vorbei nahezu geräuschlos eingeführt wurde, neue Fakten schafft, Staat und Gesellschaft einschneidend verändert.

Und neben den wirtschaftlichen nicht zu vergessen die menschlichen und gesundheitlichen Kollateralschäden und Lebensverluste, die ruinierten Existenzen, die nicht durch das Coronavirus, aber durch Einsamkeit, verschleppte Arztbesuche und aufgeschobene Behandlungen Geschädigten und Verstorbenen.

Der Staat ist nicht für alles zuständig

Die Fragen werden sich stellen. Pleitewelle, Massenarbeitslosigkeit, Wohlstandsverluste und Zerrüttung der öffentlichen Finanzen werden kommen; das zu Lasten kommender Generationen aufgenommene Geld kann die Rechnung nur hinauszögern.

Der Staat kann keinen Vollkaskoschutz gegen alle Lebensrisiken bieten, nicht einmal gegen ein einziges – fixiert er sich auf eines, vernachlässigt er notwendig andere. Der Staat ist auch nicht allzuständig. Der Irrglaube, daß er es trotzdem sein könnte und sollte, ist nicht auf Deutschland beschränkt, aber hierzulande bedauerlicherweise besonders verbreitet. Indem er sich einseitig auf die Seite derer stellt, die totale Absicherung in einer bestimmten Angelegenheit von ihm erwarten, fügt der Staat notwendig zahllosen anderen Unrecht zu.

Zurück zu bürgerlicher Eigenverantwortung

In einer postreligiösen Gesellschaft läßt sich mit dem Versprechen der Gesundheit und ihres Schutzes vieles widerstandslos durchsetzen und manche Debatte unhinterfragt zum Verstummen bringen. Doch auch hier geht es nicht ohne rationales Abwägen und Interessenausgleich.

Um die Blockade zu überwinden, ist ein Perspektivwechsel nötig: Der Fokus muß abrücken von der staatlichen Allzuständigkeit und zurückkehren zur bürgerlichen Eigenverantwortung. Aufgabe des Staates ist es, für Not- und Extremfälle vorzusorgen und die Infrastruktur zu ihrer Bewältigung vorzuhalten. Er kann – und muß – Vorkehrungen zum Schutz besonders Gefährdeter treffen, erst recht wenn diese sich, etwa in Alten- und Pflegeheimen, öffentlicher Obhut anvertraut haben. Welche Risiken der Gesunde eingeht und welche Schutzmaßnahmen er trifft, muß dagegen in erster Linie Verantwortung des einzelnen Bürgers sein.

Ein Staat, der das private wie wirtschaftliche Leben seiner Bürger umfassend an sich zieht und mit Vorschriften durchdringt, ist übergriffig, besonders wenn er sich dabei auf Annahmen und Expertisen stützt, ohne deren Sinn und Wirksamkeit sorgfältig und ständig auf den Prüfstand zu stellen. Zwang und Regulierung müssen das letzte Mittel sein, nicht die erste Option. Dies anzuerkennen und sich der Auseinandersetzung zu stellen, statt stur auf den einmal eingeschlagenen Weg zu beharren, Gegenargumente und abweichende Erkenntnisse wegzuwischen und Kritiker wahlweise für dumm oder asozial zu erklären, wäre zumindest ein Anfang.

 

Fahrgäste tragen in der S-Bahn von Hannover einen Mund-und Nasenschutz. Foto picture alliance/Ole Spata/dpa
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