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Bluttat von Hanau: Angst ist stets ein schlechter Ratgeber

Bluttat von Hanau: Angst ist stets ein schlechter Ratgeber

Bluttat von Hanau: Angst ist stets ein schlechter Ratgeber

Hanau-Demo
Hanau-Demo
Demonstration in Berlin nach der bluttat von Hanau Foto: picture alliance/Paul Zinken/dpa
Bluttat von Hanau
 

Angst ist stets ein schlechter Ratgeber

Die hinterlassenen Botschaften des Hanauer Mörders sind Dokumente eines Verrückten. Sie offenbaren eine kranke Geisteswelt. Doch die Reaktionen auf die entsetzliche Tat zeigen leider auch: Tobias R. war nicht der einzige, der unter Wirklichkeitsverlust litt beziehungsweise leidet. Ein Kommentar von Thorsten Hinz.
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Das Phänomen des Amoklaufs hat erst relativ spät Eingang in die Wirklichkeit dieses Landes gefunden. 1998 traf es Ribnitz-Damgarten in Mecklenburg-Vorpommern, eine gemütliche Kleinstadt, die das Tor zur Ostsee-Halbinsel Darß bildet. Ein ehemaliger Schützenkönig schoß zuerst auf seine Ehefrau, tötete dann zwei Konkurrenten aus dem Schützenverein und eine weitere Person, ehe er sich selbst richtete. 2002 brachte der 19jährige Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium aus Schulfrust und Versagerangst 17 Menschen um. 2016 tötete der gebürtige Iraner Ali David Sonboly in München neun Menschen und verletzte fünf weitere, die meisten ebenfalls Migranten. Er war jahrelang von Gleichaltrigen ausländischer Herkunft gemobbt und körperlich mißhandelt worden.

Nun hat der 43jährige Tobias R. in Hanau neun Shisha-Bar-Besucher umgebracht, danach seine Mutter und sich selbst. Seinen Vater ließ er körperlich unversehrt, was reichlich Stoff für psychoanalytische Deutungen bietet.

Seine hinterlassenen Botschaften sind Dokumente eines Verrückten. Seit Jahrzehnten hat er sich der Überwachung und Fernsteuerung ausgesetzt gesehen und Stimmen gehört. „Eine Hauptkonsequenz ist beispielsweise, daß ich ein Leben lang keine Frau/Freundin hatte, die letzten 18 Jahre ausschließlich deshalb nicht, da ich mir eben keine Frau nehme, wenn ich weiß, daß ich überwacht werde.“ Das sind Rechtfertigungen eines sogenannten „Incels“, eines unfreiwillig Unbeweibten, der im Konkurrenzkampf um das andere Geschlecht die Verliererkarte gezogen hat. Im Roman „Ausweitung der Kampfzone“ hat Michel Houellebecqs dargestellt, wie die moderne Gesellschaft auf dem Feld der Sexualität Frustrierte und Soziopathen generiert.

Mehrere Milliarden Menschen „eliminieren“

Auch hätten Politiker, Fußballtrainer und Filmregisseure seine Ideen gestohlen. In einer „persönlichen Botschaft an alle Amerikaner“ teilt er mit, ihr Land sei „unter Kontrolle von unsichtbaren geheimen Gemeinschaften. Sie nutzen unbekannte teuflische Methoden wie Menschen-Kontrolle und halten ein modernes System der Sklaverei aufrecht. (…) In eurem Land existieren sogenannte tiefe Untergrund-Militär-Basen, in manchen von denen huldigen sie dem Teufel persönlich. Sie mißbrauchen, foltern und töten kleine Kinder, ein unglaublicher Teil davon geschieht bereits für eine sehr lange Zeit.“

Er möchte „mehrere Milliarden“ Menschen, vor allem aus dem asiatischen Raum „eliminieren“. Einen Höhepunkt des Irrsinns bilden diese zwei Sätze: „Zudem müssen wir eine ‘Zeitschleife’ fliegen und den Planeten, den wir unsere Heimat nennen, zerstören, bevor vor vielen Milliarden Jahren das erste Leben entstand. Denn wir können nicht das, was alles jemals auf dieser Erde passiert ist, das Millionenfache Leid, das Menschen erlitten haben, so stehen lassen.“

Es soll Forensikern überlassen bleiben, die Art der Verrücktheit zu bestimmen. Doch war und ist Tobias R. nicht der einzige, der unter Wirklichkeitsverlust litt beziehungsweise leidet. „Wir müssen das Gift bekämpfen, das von der AfD und anderen in unsere Gesellschaft getragen wird“, schlußfolgert CDU-Politiker Norbert Röttgen, der sich als nächster Kanzler in Stellung zu bringen versucht, aus R.s Elaboraten und steht damit stellvertretend für die politisch-mediale Klasse.

Wer die „Todfeinde“ sind, ist klar

Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner sieht eine „rechtsradikale Wutrenaissance“ am Werk. Da mag der FAZ-Herausgeber Berthold Kohler nicht nachstehen. „(…) die Bluttaten kommen nicht aus dem hellblauen Nichts, sondern aus der Hölle des Hasses, der Verblendung und des Wahns. Die Täter glauben oder geben zumindest vor, mit dem Abschlachten von Menschen einer ‘höheren’ Sache zu dienen. Den ideologischen Überbau dafür, ob islamistischer, links- oder rechtsextremistischer Natur, liefern zahllose Haßprediger per Internet frei Haus.“ Ein paar Sätze später verweist er auf die AfD. Ein Publizist, der durch den Namen seines Stiefvaters, des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein, Prominenz erlangt hat, nennt weitere Schuldige: „Sarrazin, Broder, Tichy“.

Wohin das führen soll, ist ebenfalls in der FAZ zu lesen: „Der Staat und seine Organe, Polizei, Verfassungsschutz, Geheimdienste, müssen jetzt aufrüsten, technisch, aber auch mental; sie müssen sich, wie Israel, bis an die Zähne bewaffnen und wachsam sein, weil die hier lebenden Migranten und Ausländer auch von Todfeinden umgeben sind.“ Wer die „Todfeinde“ sind, ist klar. Gilt für sie noch das Tötungsverbot? Bei derart naßforschen Äußerungen bekommt man Zweifel.

Verrückte wie Tobias R. entwickeln innerhalb ihrer Wahnwelt eine spezifische Intelligenz und ziehen aus ihren irren An- und Einsichten eiserne Konsequenzen. Das ist das Thema von Hollywood-Klassikern wie „Shining“, „Psycho“ und „Halloween“, von Ingmar Bergmans „Schlangenei“ und bildet den Plot sämtlicher Bond-Filme. Diese Irren verfügen zudem über ein besonderes Sensorium für die Schwächen und Verrücktheiten ihrer Umwelt und reagieren auf sie.

Offenbar hat hier ein Sozio- und Psychopath, der wahnhaft davon überzeugt ist, bis in die intimsten Lebenssphären hinein überwacht, manipuliert und ferngesteuert zu sein, die Dauerbeschallung mit der Multi-Kulti-Ideologie als eine besonders schmerzhafte Penetration empfunden und deshalb Migranten zu Zielscheiben seiner Frustration gemacht.

Auch beim Mörder von Halle war die Soziopathie die Ursache, das extremistische Weltbild nur der Anlaß seines Handelns. Deshalb hielt er sich, nachdem er festgestellt hatte, daß er keine Juden umbringen konnte, eben an zwei „arischen Volksgenossen“ schadlos.

Die jetzt so hysterisch, fälschlich und schamlos die Hanauer Bluttat für den „Kampf gegen Rechts“ instrumentalisieren, sind bei Bluttaten von Ausländern schnell mit medizinischen Erklärungen bei der Hand und verbitten sich politische, religiöse oder kulturelle Verallgemeinerungen und Zuschreibungen.

Die Schizophrenie kommt aus der Angst, es könnte, entgegen allen diversitären Glücksversprechen, zu gewalttätigen Friktionen entlang ethnisch-kultureller Bruchlinien kommen. Angst ist stets ein schlechter Ratgeber. Hysterie verschlimmert die Situation zusätzlich. Wer gibt den Umweltsünder und gießt Öl auf die Wellen der Erregung?

Demonstration in Berlin nach der bluttat von Hanau Foto: picture alliance/Paul Zinken/dpa
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