Man reibt sich die Augen. Wochenlang, quälend lang, haben CSU und Grüne während der Sondierungsgespräche ihre Kontroversen gepflegt. Familiennachzug, Solidarzuschlag, Klimawende sind die Stichwörter. Alexander Dobrindt, in seiner Schroffheit kaum zu überbieten, und Jürgen Trittin, der Grüne Oberlinke mit angewachsener Haßkappe gegenüber bürgerlicher Politik, waren die Brüder im Geiste.
Scheinbar. In einem dramatischen Finale hat die FDP eine Jamaika-Koalition scheitern lassen. Parteichef Christian Lindner, die unumstrittene Nummer Eins der Liberalen, hat klare Kante gezeigt gegenüber der Union und den Grünen. Ein inszenierter Auszug aus den Sondierungsgesprächen? Gegenseitige Schuldzuweisungen machen die Runde. Es geht um die Deutungshoheit.
Man reibt sich die Augen. CSU und Grüne versichern sich Seit an Seit nicht nur ihrer gegenseitigen Wertschätzung, sondern waren auch inhaltlich auf Kuschelkurs gegangen. Mit anderen Worten, CSU-Parteichef Horst Seehofer war zum Wortbruch bereit. Beim Familiennachzug. Der prinzipienlose Machtpolitiker hätte nachgegeben, Hunderttausende Menschen wären legal ins Land gekommen.
Selbstbewußte FDP
Kurz vor einer Einigung sei man gewesen, bedauerte Seehofer und fügte hinzu, die Haltung der FDP sei eine „Belastung für Deutschland“. Um am Ende seiner Eloge auf die Grünen ein fast zärtliches „Danke Angela Merkel“ für deren Verhandlungsführung hinzuzufügen. Nicht die Grünen mit ihrer verantwortungslosen Flüchtlingspolitik haben also Jamaika zum Scheitern gebracht, sondern die FDP, der jahrzehntelang geborene Koalitionspartner von CDU und CSU.
Lindners beherzter Coup hat Auswirkungen auf beide Unionsparteien. Seehofer kehrt ohne Verhandlungsergebnis mit leeren Händen zurück nach München. CDU-Chefin Angela Merkel muß erkennen, daß aus ihrem einstigen Kuschel-Koalitionspartner unter Brüderle und Rösler ein selbstbewußter Verhandlungspartner unter Lindner und Kubicki geworden ist. Ein Verhandlungspartner, der die CDU im bürgerlichen Lager offensiv herausfordert.
Mit einem klaren Profil ist es Lindner gelungen, eine inhaltsleere CDU und eine wankelmütige CSU in die Defensive zu drängen. Die Unionsparteien müssen aufpassen vor dem Ober-Liberalen wie übrigens auch die AfD. Denn der FDP-Chef setzt auch nach der Bundestagswahl seinen Kurs der Diskreditierung und Annäherung fort. Einerseits wird die AfD als rechtspopulistisch verleumdet, andererseits werden deren Positionen teilweise kopiert.
Merkels Position ist nicht geschwächt
Man reibt sich auch deshalb die Augen, da das Scheitern von Jamaika Merkels Position nicht geschwächt, vielmehr eher gestärkt hat. Innerparteilich wird ihre Verhandlungsmoderation anerkannt, obwohl sie nicht geliefert hat, verfassungsrechtlich ist ihre Stellung als geschäftsführende Bundeskanzlerin stark. „Bitte nicht wieder“ hat sie zu nächtlicher Stunde auf Seehofers peinlichen Dank erwidert.
Richtig. Zu unterschiedlich sind die Positionen von FDP und Grünen, um vier Jahre zum Wohl des Landes zu regieren. Jamaika klang so verführerisch nach neuem Aufbruch, „Schwampel“, schwarze Ampel, hätte besser gepaßt, nüchtern zwar aber stärker an der politischen Wirklichkeit orientiert.