An diesem Freitag beginnt die alljährliche Münchener Sicherheitskonferenz: Was lange Jahre kaum mehr als ein Ritual war, ein Branchentreff der Sicherheitsexperten – zuerst im Kalten Krieg, dann in den „geschichtslosen“ (Francis Fukuyama) Jahren nach 1990 –, präsentiert sich 2017 als Bühne des Neuen, Unberechenbaren und Unvorhersehbaren.
Was will Trump, wohin driftet die westliche Führungsmacht? Ist das liberale Europa am Ende? Wie entwickelt sich das Verhältnis zu Rußland? In jeder Talkshow ist zu spüren: Der staatstragende Teil Westeuropas blickt in die Zukunft wie in ein schwarzes Loch. Nicht umsonst beschäftigt sich der Auftaktabend in München mit der Frage, ob der Westen „untergeht“.
Ist die Nato wirklich obsolet? Anders gefragt: Ist die diesjährige Münchener Konferenz die erste im post-westlichen Zeitalter? Händeringend suchen die Vertreter des europäischen Status quo einen Weg aus der Defensive. Der letzte Schrei: Gemeinsame Militärstrukturen sollen der angeschlagenen Gemeinschaft zu neuem Leben verhelfen. Als Feindbild fällt ihnen dann aber nur wieder Rußland ein, das außer dem Wunsch nach Mitsprache in der ostslawischen Welt den Kontinent nun wirklich nicht bedroht. Immerhin fordert auch Außenminister Gabriel einen gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenze – gegen (das verschweigt der Minister wohlweislich) die illegale Zuwanderung.
Westen hat an Strahlkraft verloren
Man kann sich ausmalen, welches Schicksal seinen Vorschlag in einer von Humanismus überschäumenden rot-rot-grünen Bundesregierung erwartet. Fraglos hat der Westen an Attraktivität, an Strahlkraft verloren. Die Globalisierung hat bewirkt, daß niemand mehr zum technisch überlegenen weißen Mann aufschaut. Gleichzeitig leisten sich die westlichen Länder einen rapiden Zivilisationsverlust.
Trashkultur und hemmungslose Selbstverwirklichung sorgen nicht eben für Reputation in der Welt. Wenn sie lesen, wie die Fixer an Berliner U-Bahnhöfen unbehelligt ihr Heroin aufkochen, sind viele Asiaten glücklich, daß bei ihnen auf Rauschgiftbesitz die Todesstrafe steht. Auch die lockere Einstellung zur Migration – „offene Grenzen“ – sorgt nicht gerade für Bewunderung in der Welt. Schon die unmittelbaren Nachbarn schütteln verständnislos den Kopf.
Der typische Verfechter der westlichen Gesellschaftsdoktrin hat zwar Vorstellungen, aber keinen Plan. Tolerante, liberale Gesellschaften, autonome Individuen … viel mehr ist da nicht. Religion: Privatsache. Kultur: Jeder wie er will, am besten multi. Man fragt sich, wie man immer noch glauben kann, das alles sei so was wie „Fortschritt“.
Geringere Meinung von Europa
Auf einer Sicherheitskonferenz mögen gesellschaftspolitische Fragen keine Rolle spielen – das Maß der gegenseitigen Hochachtung beeinflussen sie doch. Und bewirken, daß die Nichteuropäer, aber auch die geographisch zum Kontinent gehörenden Russen, eine deutlich geringere Meinung von Europa haben als noch vor 20 oder 30 Jahren. Selbst in den osteuropäischen EU-Ländern ist die Abkehr vom „Weg des Westens“ offensichtlich.
Und nicht zuletzt im eigenen Lager wächst der Widerstand gegen die permissive Gesellschaft, die sich selbst als „liberal“ anpreist: Brexit, Trump, bald vielleicht Geert Wilders, Marine Le Pen … was ist das anderes als die Suche nach einem alternativen Weg? In einer Welt jahrtausendealter Zivilisationen scheitert die neue westliche Selbstbeschreibung, aller technischen Globalisierung zum Trotz, an ihrer bodenlosen Beliebigkeit.
Pat Buchanan, Urgestein der US-amerikanischen Konservativen, hat schon vor Jahren prophezeit, das 21. Jahrhundert werde beherrscht sein vom Konflikt zwischen Globalisierern und Supranationalen auf der einen und den Vertretern partikularer Identitäten auf der anderen Seite. Dieser Konflikt ist in vollem Gange. Und wenn die Konfrontation selbst in den USA, die lange Zeit (gegen die historische Realität) als Schmelztiegel der Nationen galten, so früh und massiv aufbricht, kann man sich in Europa alle Illusionen sparen. Hier reichen die Wurzeln des Partikularismus in die Zeit vor über tausend Jahren zurück.
Blut ist dicker als Wasser
Unter dem Eindruck zweier katastrophaler Weltkriege besannen die Völker sich für eine kurze Phase auf ihre Gemeinsamkeiten – die auch künftig nicht vergessen sein werden. Inzwischen aber zeigt sich: Blut ist doch dicker als Wasser. Das anzuerkennen fällt den europäischen Eliten unendlich schwer. In einem Konservatismus, der an das 19. Jahrhundert erinnert, klammern sie sich an eine Vergangenheit, in der alles klar und einfach war: ein Feind, die europäische Einigung im Gedenken an die großen Kriege, Fortschritt und Wohlstand, die USA an unserer Seite und die Dritte Welt in gehörigem Abstand.
Kein „Pivot to Asia“, kein Südchinesisches Meer, kein „Islamischer Staat“, der die Weihnachtsmärkte terrorisiert. Die gute alte Zeit. Derweil entsteht eine neue Weltordnung, in der wir Europäer nur noch Statisten sind. Im übrigen beschäftigt mit einem unlösbaren Problem: der Abwehr der Massenflucht aus Afrika. Bisweilen kann man die Nostalgie auch durchaus verstehen.