Nach Karl Marx gehen alle großen Ereignisse der Geschichte zweimal über die Bühne. Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Wenn an dieser geistreichen These etwas dran ist, könnte man das, was wir derzeit in Deutschland erleben, eine Farce von 1933 nennen.
Das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das am 24. März 1933 mit Zweidrittelmehrheit vom Reichstag beschlossen wurde, gilt allgemein als Auftakt der nationalsozialistischen Diktatur. Tatsächlich wurde der Reichsregierung mit dem sogenannten „Ermächtigungsgesetz” von der Legislative in aller Form das Recht eingeräumt, Gesetze zu erlassen und völkerrechtliche Verträge abzuschließen, ohne sich um die „Volksvertretung“ kümmern zu müssen. Damit hatte sich die parlamentarische Demokratie in Deutschland de jure und de facto selbst liquidiert.
Wenn wir Nachgeborenen von den Oberlehrern der Bundesrepublik über den Untergang der Weimarer Republik belehrt werden, wird dieser peinliche Umstand meistens diskret verschwiegen. Man zieht es vor, den Akzent auf Hitlers Machtergreifung zu legen, die eine logische Folge der parlamentarischen Selbstentmachtung war. Im Einklang mit dieser Sicht konzentrieren sich auch die Protagonisten der wehrhaften Demokratie auf den gespenstischen Kampf gegen eine fiktive rechtsextreme Bedrohung der parlamentarischen Demokratie.
Der ESM beerdigt die Demokratie
Beim Verfassungsschutz kommt offenbar niemand auf die Idee, daß die liberale Demokratie nach den Erfahrungen der deutschen Geschichte vor sich selbst geschützt werden muß. In Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs von wilden Rechtsextremisten auf die demokratischen Institutionen, starren die Hüter der Verfassung wie hypnotisiert in die immer gleiche Himmelsrichtung.
Diese urkomische Ausgangskonstellation bildete die ideale Kulisse für die historische Farce, die wir am 29. Juni erleben durften, als die Vertreter des deutschen Volkes im Berliner Reichstag keine achtzig Jahre nach der Tragödie des Ermächtigungsgesetzes wiederum mit überwältigender Mehrheit mit dem ESM ein Gesetz verabschiedeten, mit dem die parlamentarische Demokratie in Deutschland erneut beerdigt wurde.
Die Reaktion der Deutschen macht Hoffnung
Alles Geschwätz von einem Übergang der nationalen in eine supranationale Demokratie oder von einem nationaldemokratischen Staat in eine postdemokratische Weltgesellschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die moderne parlamentarische Demokratie, die nicht etwa aus dem „Volkswillen“, sondern aus dem Steuerbewilligungsrecht der „Reichen“ hervorgegangen ist, mit der souveränen Budgetkontrolle des Parlaments steht oder fällt.
Daß die Selbstentmachtung des Parlaments diesmal über die Bühne gehen konnte, ohne daß dafür erst noch eine SA aufmarschieren mußte, zeigt, daß mit dem scheinbaren Rückfall in dunkle Zeiten tatsächlich ein echter historischer Fortschritt verbunden ist. Die ablehnende Reaktion der Deutschen auf den kalten Staatsstreich der Postdemokraten zeigt, daß die mühsame Vergangenheitsbewältigung doch nicht ganz für die Katz war.
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Prof. Dr. Robert Hepp ist emeritierter Soziologe an der Universität Vechta.