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Koalition: Regiert von Autisten

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Koalition
 

Regiert von Autisten

Nicht der Quereinsteiger, sondern der Kandidat aus dem laufenden Politikbetrieb zieht nun ins Schloß Bellevue ein. Es war eine Wahl mit vielen Verlierern: die Kanzlerin, der mit Müh’ und Not ins Amt gelangte neue Präsident Christian Wulff, der unterlegene Bewerber Joachim Gauck, vor allem aber die Bürger, die wieder nicht bei der Wahl ihres Staatsoberhaupts mitreden durften. Eine Reform unserer Parteiendemokratie ist drängender denn je.
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Inschrift über dem Reichstag in Berlin: Innere Delegitimation der politischen Klasse gegenüber dem Staatsvolk Foto: Pixelio/Dieter Schütz

Angela Merkel kann aufatmen. Guido Westerwelle auch. Die Revolte ist überstanden, ihr Kandidat für Schloß Bellevue, der bisherige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, ist im dritten Anlauf zum Bundespräsidenten gewählt worden.

Eine Wahl mit vielen Verlierern: die Kanzlerin, der mit Müh’ und Not ins Amt gelangte neue Präsident, der unterlegene Bewerber Joachim Gauck, vor allem aber die Bürger. Sie durften bei der Wahl ihres Staatsoberhauptes wieder nicht mitreden und haben statt des „besseren Präsidenten“, den gerade viele Anhänger von Union und FDP in dem vormaligen Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde sahen, doch wieder nur den zweitbesten bekommen.

Mit dem Namen Joachim Gauck können die meisten Deutschen eine klare Botschaft verbinden: Freiheit, Geradlinigkeit, Antitotalitarismus. Die unbeirrte Ablehnung des linken wie des rechten Extremismus stand letztlich seinem Sieg im Wege, weil SED-PDS-Linke, für die der Stasi-Aufarbeiter Gauck schon durch seine Persönlichkeit ein verhaßtes Menetekel ist, nicht über ihren Schatten springen konnten und er sich nicht anbiedern mochte.

Merkels Pyrrhussieg

Das war vielleicht nicht schlau; das antitotalitäre Vermächtnis der bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, für die Joachim Gauck steht, ist schließlich auch bei den Union und SPD längst nicht mehr Konsens. Aber es war konsequent, und es unterstrich einmal mehr, warum Joachim Gauck eben doch der bessere Präsident gewesen wäre: Ein Mann der Freiheit, kein „Systemmensch“.

So charakterisierte ein Nachrichtenmagazin Christian Wulff, der auch im dritten Wahlgang nicht alle Stimmen der Regierungskoalition auf sich vereinigen konnte und angeschlagen ein beschädigtes Amt antritt. Nicht, daß ihn das auf Dauer grämen dürfte: Er wird das Amt, das ohnehin überwiegend repräsentativen Charakter hat, passabel ausfüllen. Und er wird die Erwartungen der Bundeskanzlerin erfüllen, die ihn in einsamem Ratschluß auf den Schild gehoben und in Kungelrunden die Parteivorsitzenden der Koalitionspartner auf ihn verpflichtet hatte.

Für Angela Merkel war es dennoch ein Pyrrhussieg. Zwar ist der vorerst letzte potentielle Rivale um ihren Kanzlersessel jetzt ins Schloß Bellevue weggelobt, von wo er sie voraussichtlich weder mit querliegenden Gedanken und aufrüttelnden Reden noch mit Renitenz beim Prüfen und Ausfertigen auch von verfassungsrechtlich bedenklichen Gesetzen nennenswert behelligen wird.

Symptom für die Delegitimation der politischen Klasse

Auch dafür nimmt man schließlich ausdrücklich keinen Quereinsteiger, sondern einen Kandidaten aus dem laufenden Politikbetrieb, damit der die in mancher Hinsicht gar nicht so geringen Kompetenzen eines Bundespräsidenten nicht in einem Maße ausschöpft und ernstnimmt, daß dieser Betrieb davon gestört werden könnte.

Die Koalitionskrise ist damit allerdings nicht erledigt. Das „System Merkel“ ist hoffnungslos festgefahren. Man weiß auch weiterhin nicht, was die Kanzlerin mit ihrer Macht anfangen will, außer sie zu besitzen und von Krise zu Krise weiterzuverwalten. Vielleicht wird Ursula von der Leyen, die als Beinahe-Kandidatin vorgeführte und düpierte Familienministerin, der nächste innerparteiliche Rivale, den sie kaltstellen muß. >>

Die Bürger interessiert das freilich nicht. Die breite Sympathiewelle für Joachim Gauck quer durch alle Bevölkerungsschichten war ein deutliches Symptom für die innere Delegitimation der politischen Klasse gegenüber dem Staatsvolk. Die von Gauck selbst konstatierte „große Kluft zwischen Regierung und Bürgern“ ist durch seine Nichtwahl weiter gewachsen.

Denkzettel für die Kanzlerin

Dreist wie nie hat diese Bundesversammlung demonstriert, wie sehr die Gewissensentscheidung abstimmender Abgeordneter zum taktischen Manöver verkommen ist – bis hin zur Auswechselung von Wahlleuten, die auf ihre Gewissensfreiheit pochten.

Unions- und FDP-Leute stimmten also letzten Endes für den Kandidaten ihrer Chefs, nicht weil sie von dessen Qualitäten überzeugt waren, sondern weil sie die letzte Chance auf Machtteilhabe in der schwarz-gelben Koalition nicht riskieren wollten – und weil viele Parlamentsneulinge im Falle einer Neuwahl den Absturz unter alle Versorgungsmöglichkeiten fürchten mußten. Manche stimmten erst für Gauck und dann doch wieder für Wulff, um der Kanzlerin einen Denkzettel zu verpassen, ohne doch den Mut aufzubringen, den Aufstand durchzuhalten.

SPD und Grüne wiederum nominierten und unterstützten Joachim Gauck nicht, wie scheinheilig vorgeschoben, wegen seiner freiheitlichen Gesinnung und um der Parteienverdrossenheit entgegenzuwirken, sondern um einen Keil in die angeschlagenen Regierungsparteien zu treiben – was ihnen auch zur Zufriedenheit gelungen ist.

Atempause für die Staatskrise

Statt eines unbeugsamen Nicht-Mitläufers wird der zehnte Bundespräsident ein angepaßter Parteikarrierist, der sich mit der Ernennung der ersten türkisch-muslimischen Landesministerin als Repräsentant einer multikulturell transformierten anderen Republik empfohlen hat. Ist es das, was die Bürger wollten? Man hat sie nicht entscheiden lassen; den Demoskopen, die sie trotzdem befragten, haben sie überwiegend mit „Nein“ geantwortet.

Der beschämend unwürdige Verlauf der Bundespräsidentenwahl vom 30. Juni hat einmal mehr schmerzlich bewußt gemacht, wie anachronistisch das in der Frühzeit der Bundesrepublik institutionalisierte Mißtrauen gegenüber dem eigenen Volk ist.

Eine grundlegende Reform unserer Demokratie ist überfällig; die Direktwahl des Staatsoberhauptes oder die vom Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim vorgeschlagene Direktwahl der Ministerpräsidenten kann dazu nur ein erster Schritt sein. Klar ist nach dieser mißglückten Wahl freilich auch, daß relevante Anstöße dazu aus der autistisch agierenden politischen Klasse nicht zu erwarten sind. Die Staatskrise hat nur eine Atempause genommen.

JF 27/10

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