Herr Heinrich, Rußlands Präsident Wladimir Putin ist zu Gast in Nordkorea beim dortigen Diktator Kim Jong-un und bittet um Granaten im Tausch für militärische Hochtechnologie. Wie ist das zu bewerten?
Torsten Heinrich: Wir sind nun in einer Realität angekommen, in der ein Mitglied des Weltsicherheitsrates bei einem der schlimmsten und langlebigsten Schurkenstaaten der Welt einen Staatsbesuch zum Betteln antritt.
Nordkorea wird einfache Granaten Vermutungen zufolge gegen beispielsweise Technologie für Atom-U-Boote eintauschen.
Von dem Bruch zahlreicher Sanktionen abgesehen zeigt es, wie sich die strategische Lage verändert hat. Rußland muß effektiv als Bittsteller in Pjöngjang erscheinen. Für Kim ist das eine unfaßbare Aufwertung, für den Westen allerdings auch erneut ein deutliches Zeichen, daß die Rückkehr zu einer Weltordnung vor 2013 nicht mehr denkbar ist.
Rußland kann in der Rüstung auftrumpfen
Immer wieder wurde in den vergangenen Monaten betont, wie stark die russische Militärindustrie sei, auch was die Panzer- und Drohnenproduktion angeht. Konterkariert so ein Besuch dies nicht als reine Propaganda?
Heinrich: Die russische Rüstungsindustrie ist stärker als die westliche, weil sie, anders als die des Westens, auf Kriegsproduktion umgeschwenkt hat. Die aktuellen Schätzungen des International Institute for Strategic Studies (IISS) erwarten 2025 eine russische Jahresproduktion von 90 Kampfpanzern vom Typ T-90M. Das entsprach im Kalten Krieg der Leopard-2-Produktion von zwei bis drei Monaten.
Rußland kann in der Rüstung auftrumpfen, weil noch immer die großen Erfolgsmeldungen 18 weitere Radhaubitzen für die Ukraine sind. Würde sich der Westen auf einen Sieg der Ukraine festlegen, so wäre die materielle Lage in wenigen Jahren umgekehrt.
In einem Wettkampf, in dem nur einer sich anstrengt, der andere aber noch Mittagsschlaf hält, kann erster leicht dominieren. Allerdings muß der Zweite irgendwann auch mal aufwachen und sich bewegen.
Der Westen kann Rußland weit in seiner Produktion übertreffen. Aber nur bei entsprechenden staatlichen Aufträgen, die noch immer nicht erfolgen.
Die Ukraine konnte zuletzt die Front durch neue Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen wieder stabilisieren. Ist im mittlerweile dritten Kriegsjahr wieder mit Sommeroffensiven zu rechnen? Wenn ja, wem räumen Sie die besseren Chancen ein?
Heinrich: Dieses Jahr sind ernsthafte ukrainische Offensiven, die auf operative Gewinne abzielen, illusorisch. Die aus politischen Gründen um ein halbes Jahr verzögerte Mobilmachung wird die ukrainische Unterlegenheit in Personal noch über Monate verlängern, wenn sie diese überhaupt dauerhaft beheben kann. Anschließend hat das Personal aber noch dringenden Ausbildungsbedarf, wenn es mehr als Kanonenfutter sein soll.
Rußland wird seine Offensiven vorantreiben
Große Lieferungen, die zumindest lokal eine deutliche materielle Überlegenheit garantieren, sind aktuell noch nicht abzusehen.
Nein, von der Ukraine sollten aktuell bestenfalls lokale Gegenstöße zu erwarten sein, aber keine ambitionierte Gegenoffensive wie 2023. Die beste Hoffnung wird sein, daß die F-16-Kampfjets nach ihrer Ankunft in größerer Zahl der Ukraine lokale Luftüberlegenheit ermöglichen, was aber 2024 ebenfalls noch kaum vorstellbar ist.
Rußland wird hingegen sicherlich seine Offensiven vorantreiben. Es hat die Front an mehreren Stellen leicht in Bewegung gebracht, jedes Erstarren erlaubt den Ukrainern eine Festigung ihrer Positionen. Ich würde daher fortlaufende russische Offensivbemühungen während des Sommers erwarten, allerdings ohne große Durchbrüche, die den Namen wert sind. Ein Kollaps der ukrainischen Front, auch nur partiell, ist nicht zu erwarten. Daran ändern auch durchaus mögliche Wiederholungen der Erfolge um Otscheretyne nichts.
Vor wenigen Tagen legte Rußlands Präsident Wladimir Putin einen neuen sogenannten Friedensplan vor. Was ist davon zu halten?
Heinrich: Rußland sieht sich auf der Siegerstraße, eine Abkehr von seinen Forderungen ist daher nicht zu erwarten. Moskau wird effektiv eine Kapitulation fordern, nur mit anderem Namen. Eventuell plant Putin ein, daß völlig überzogene Forderungen eine größere Bewegung der Gegenseite erzeugen und damit Rußland mehr ermöglichen, als aktuell realistisch ist. Sozusagen, als fordere man für eine Stelle beim Einstellungsgespräch 100.000 Euro jährlich, obwohl das Gehalt normalerweise bei 40.000 Euro liegt. Vielleicht geht der Arbeitgeber dann ja auf 65.000 Euro hoch. Wenn nicht, dann eben nicht.
Da von ukrainischer Seite keine Kapitulation zu erwarten ist, wird der Friedensplan aussichtslos sein, solange die westlichen Unterstützer die Ukraine nicht zu einem Nachgeben zwingen, was außenpolitisch und geopolitisch katastrophal wäre. Aber in Demokratien können Wahlen zu neuen Regierungen führen, so daß sich dies sehr schnell ändern kann. In die eine Richtung wie in die andere.
Grundsätzlich ist aber kein ernstes, weil akzeptables, Angebot zu erwarten.
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Der Militärexperte Torsten Heinrich betreibt den YouTube-Kanal „Militär & Geschichte mit Torsten Heinrich“. Dort liefert er regelmäßige Lageberichte zum Ukraine-Krieg und anderen internationalen Konfliktherden.