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Vierte Coronawelle: „Impfen ist kein solidarischer Akt“

Vierte Coronawelle: „Impfen ist kein solidarischer Akt“

Vierte Coronawelle: „Impfen ist kein solidarischer Akt“

Impfung gegen das Corona-Virus
Impfung gegen das Corona-Virus
Impfung gegen das Corona-Virus Foto: picture alliance / NurPhoto | Beata Zawrzel
Vierte Coronawelle
 

„Impfen ist kein solidarischer Akt“

„Terrorisieren“ Ungeimpfte die Gesellschaft? Nein, widerspricht der Epidemiologe Friedrich Pürner, diese Rhetorik und der Ruf nach einer Impfpflicht sollen nur die Ursache der aktuellen Krise verschleiern. Wegen seiner Kritik an der Corona-Politik wurde der ehemalige Amtsarzt versetzt. Nun hat er ein Buch geschrieben.
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„Terrorisieren“ Ungeimpfte die Gesellschaft? Nein, widerspricht der Epidemiologe Friedrich Pürner, diese Rhetorik und der Ruf nach einer Impfpflicht sollen nur die Ursache der aktuellen Krise verschleiern. Wegen seiner Kritik an der Corona-Politik wurde der ehemalige Amtsarzt versetzt. Nun hat er ein Buch geschrieben.

Herr Dr. Pürner, brauchen wir eine Impfpflicht, um, wie die „Nordwest-Zeitung“ fordert, endlich „Impfunwillige strafrechtlich verfolgen zu können“?

Friedrich Pürner: Nein, in einem freien Land muß jeder über seinen Körper selbst entscheiden. Freiheit ist ein hohes Gut und in den seltensten Fällen wird es ausreichend gewürdigt, wie man hier „schön“ sieht.

Auch nicht wenn, so der Autor, deren „Verhalten dazu führt, daß Menschen sterben“?

Pürner: Offenbar vergessen manche, daß Infektion und Krankheit zum allgemeinen Lebensrisiko gehören. Was ist dann mit Geimpften, die andere anstecken? Nach dieser Logik wären auch sie schuldig, da sie wieder ihre Freiheiten in Anspruch genommen haben, statt sich zu Hause zu isolieren. Nein, die Forderung nach Impfung als solidarischem Akt ist absurd. Diese ist ein medizinischer Eingriff, und das nicht zu respektieren ist übergriffig und gefährlich.

Aber erleben wir nicht eine „Tyrannei der Ungeimpften“ (Frank Ulrich Montgomery), die „die Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzt“ (Stephan Weil, SPD) und wegen der wir auf ein „sehr schlimmes Weihnachtsfest“ (Lothar Wieler) zusteuern?

Pürner: Diese Vorwürfe sind ebenfalls tief unethisch, und die Tonlange erinnert mich an dunkelste Zeiten. Ist sich Herr Montgomery im klaren, was er sagt? „Tyrannei“ ist etwas Illegitimes, Gewaltvolles, Willkürliches. Jeder hat aber das Recht über seinen Körper selbst zu bestimmen, ohne aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, als Asozialer, Extremist, Spinner oder Querulant zu gelten. Machen sich diese Leute eigentlich klar, was sie da lostreten? Dabei will ich klarstellen, ich bin an sich Impfbefürworter.

Vor Corona habe ich mich sehr dafür eingesetzt, habe wieder und wieder gefordert, wir, der öffentliche Gesundheitsdienst, müsse viel mehr impfen! Da bei vielen Bürgern der Schutz ihrer Standardimpfungen abgelaufen ist. Damals hat das kaum einen interessiert, meine Mahnung wurde ignoriert. Da ist also auch Heuchelei im Spiel! Vor allem wenn versucht wird, mich als Impfverweigerer darzustellen. Ein Arzt ist ethisch verpflichtet, seinem Patienten auf Augenhöhe zu begegnen, dessen Entscheidung also zu respektieren. Es steht uns nicht zu, uns über dessen Willen zu erheben.

Ethik und Ton sind eines – aber haben Wieler und Co. nicht in der Sache recht?  

Pürner: Nein. Ungeimpfte als Schuldige – das ist ein Sündenbock, um zu verschleiern, wer tatsächlich verantwortlich ist: Staat und Politik haben es vermasselt – und zwar schon vor Corona! 

„Nun fliegt Staat und Politik ihr Versagen um die Ohren“

Das ist die Diagnose, die Sie in Ihrem Buch stellen. 

Pürner: Ja, denn beide wußten längst, daß unsere Krankenhäuser und unser Gesundheitssystem am Limit sind. Ich habe selbst immer wieder Jahre erlebt, in denen im Herbst/Winter die Intensivstationen überfüllt waren. Und wer recherchiert, findet immer neue Medienberichte mit dem Tenor: Krankenhäuser voll, Intensivbetten überbelegt, Pflegekräfte erschöpft, Personal fehlt. Jahrelang hat die Politik nicht darauf reagiert, hat alles sogar schlimmer gemacht. Nun fliegt ihnen dieses Versagen um die Ohren!

Oft verschweigen Medien den Anteil der Covid-Intensivpatienten. Beispiel: der Deutschlandfunk-Beitrag „Warum Intensivstationen an die Kapazitätsgrenze kommen“ vom 16. November, der viele Zahlen nennt – diese aber fehlt. Wie sieht es da tatsächlich aus? 

Pürner Pandemie
Friedrich Pürner: Diagnose Pan(ik)demie. Jetzt im JF-Buchdienst bestellen

Pürner: Ihr Anteil reicht, je nach Bundesland, von bis zu dreißig Prozent, wie bei uns in Bayern, bis hinunter in den einstelligen Bereich. Allerdings wird dabei nicht unterschieden, ob ein Patient „wegen“ oder nur „mit“ Covid auf der Intensivstation liegt. Diese wichtige Unterscheidung ist aber kaum nachzuvollziehen, da unsere Daten, anders als die Bürger glauben, äußerst ungenau sind. Doch selbst wenn wir nicht zwischen wegen/mit unterscheiden, füllen Covid-Patienten nur einen kleineren Teil der Intensivbetten. Was uns zur wahren Ursache der Krise zurückführt, die ich in meinem Buch darstelle: Unser „krankes“ Gesundheitssystem. 

Wer füllt denn dann die übrigen Betten? 

Pürner: Vor allem dürften das Herz-Kreislauf-Patienten,Verunfallte und frisch Operierte sein. Wie gesagt lehne ich es ab, Menschen vorzuwerfen, daß sie krank sind. Doch wendet man die Logik an, mit der gegen die Ungeimpften zu Felde gezogen wird, sind es nicht diese, die uns „tyrannisieren“ und die „strafrechtlich verfolgt“ werden müßten, sondern jene, deren meist nicht sehr gesunder Lebensstil – Rauchen, Essen, zu wenig Bewegung, zu viel Streß – ihre Herz-Kreislauf-Erkrankung befördert. Und auch wenn ergänzt werden muß, daß die Versorgung eines Covid-Intensivpatienten wegen der Infektionsschutzmaßnahmen einen höheren Aufwand erfordert als die eines Herz-Kreislauf-Intensivpatienten, zeigt der Vergleich doch, wie absurd und unethisch die aktuelle Rhetorik gegen die Ungeimpften ist.

„Es geht nicht um Logik, sondern um ein Narrativ“

2020 gingen über 4.000 Intensivbetten, davon 3.000 „Highcare“-Betten „verloren“ (Deutschlandfunk). 

Pürner: Richtig, allerdings haben wir die natürlich nicht „verloren“, sondern sie wurden abgebaut. 

3.000 von insgesamt 12.000 „Highcare“-Betten in Deutschland: Das heißt, es wurden – mitten in der Pandemie – 25 Prozent der zu ihrer Bekämpfung extrem wichtigen speziellen Sorte Intensivbetten weggespart? 

Pürner: Ja, wobei teilweise der Grund ist, daß es nicht genug Personal gibt, um sie zu betreiben. Da Pflegekräfte schlecht verdienen und diese Arbeit ein ausgesprochener Knochenjob ist, herrscht Personalmangel – das führt dazu, daß die übrigen überlastet sind, weshalb immer mehr den Beruf verlassen. Und das, obwohl es 2020 viel Geld für neue Intensivbetten gab, Kapazitäten also auf- statt abgebaut hätten werden müssen. Und es gibt noch einen weiteren Faktor, der Intensivbetten knapp macht, auch wenn er in Anbetracht des eben Gesagten widersprüchlich klingen mag: Es ist nicht gut, wenn Intensivbetten leerstehen. 

Warum nicht? 

Pürner: Weil sie teuer sind. Deshalb sind Kliniken bestrebt, sie zu füllen. Das ist ökonomisch nachvollziehbar, verringert aber freie Kapazitäten.

Diese Aspekte bleiben in den Medien zwar oft ungenannt, werden aber nicht völlig verschwiegen. Wie ist dann jedoch zu erklären, daß die gleichen Medien die Debatte so führen, als zählten diese Faktoren kaum und die Ungeimpften seien vor allem das große Übel? 

Pürner: Gar nicht. Aber das spielt keine Rolle, da es sich nicht um logische Argumentation, sondern  um ein Narrativ handelt. Ein Narrativ, das erfunden wurde, zum einen weil tatsächlich die Datenlage so schlecht ist, daß wir nicht genau wissen, woran wir sind. So hat die vielzitierte Divi, die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, eingeräumt, sie wisse gar nicht, wie viele der Covid-Intensivpatienten tatsächlich ungeimpft sind. 

„‘Pandemie der Ungeimpften’ entspricht nicht den Fakten“

Laut Deutscher Krankenhaus Gesellschaft (DKG) waren es in diesem November 74 Prozent.

Pürner: Das würde ich gerne noch genauer wissen, denn zum Beispiel werden bei uns in Bayern alle, bei denen der Impfstatus unbekannt ist, zu den Ungeimpften gerechnet! Weiter dient das Narrativ dazu, eigene Verantwortung zu kaschieren sowie den Impfdruck zu erhöhen: Begriffe wie „Pandemie der Ungeimpften“, das muß einem klar sein, sind also keine Sachaussage, sondern Teil einer Erzählung.

Woran aber, außer an Unterfinazierung, krankt unser Gesundheitssystem noch?

Pürner: Wesentlich an der Privatisierung der Krankenhäuser und dem damit eingeführten Abrechnungssystem, das zwingt, an allen Ecken und Enden zu sparen. Wodurch die Ökonomie und nicht das Wohl der Patienten im Mittelpunkt steht. Damit hängt ein weiterer wichtiger Aspekt zusammen: Ich bin überzeugter Präventionsmediziner, weil ich sehe, daß sich viele Erkrankungen vermeiden lassen, wenn die Bürger aufgeklärt und richtig beraten werden.

Doch Prävention wird in unserem Gesundheitssystem kaum vergütet. Was dagegen bezahlt wird, ist das Behandlung von Krankheiten. Das System erzeugt also kaum Motivation, Kranksein zu verhindern. Im Gegenteil, nur mit Kranken läßt sich Geld verdienen! Und dann ist da noch die erwähnte Behandlung des Personals: Geringe Löhne, Überlastung sowie Frustration, weil durch den Druck, der durch Personalmangel und Sparzwang entsteht, ein menschlicher Umgang mit den Patienten sowie eine Fokussierung auf das Heilen unmöglich ist. Und das vertreibt nicht nur Pflegekräfte, sondern auch Ärzte. 

Aber droht unser Gesundheitssystem ohne Spardruck nicht unbezahlbar zu werden? 

Pürner: Es ist so krank, daß wir eine Reform wagen sollten! Zudem läßt sich durch wirksame Prävention erheblich sparen. Die muß schon in der Schule beginnen: Ernährung, Bewegung, Ausgleich und Psychohygiene. Ich glaube, so läßt sich viel an „Volkskrankheiten“ und so an späteren Kosten verhindern.

„‘Panikdemie’? Ja. Dennoch warne ich, Covid zu unterschätzen!“

Fazit Ihres Buches: Wir erleben also keine Pandemie sondern, wie dessen Titel lautet, eine „Pan(ik)demie“?   

Pürner: Beides: Es ist eine Pandemie, und ich warne, Corona zu unterschätzen und auf bestimmte Maßnahmen wie Abstand und Hände-Hygiene in den Wintermonaten zu verzichten! Vor allem sollen kranke Menschen zu Hause bleiben. Doch wird auch eine „Panikdemie“ daraus gemacht, weil wir spätestens seit Frühjahr 2020 wissen, daß Covid für Jüngere und fitte Menschen nicht so gefährlich, nur für Vorerkrankte und Ältere lebensbedrohlich ist – dennoch aber hat die Politik die Maßnahmen nicht angepaßt. Dabei sind, wenn vulnerable Gruppen geschützt werden, Lockdowns und Quarantäne nicht nötig. Es reicht, daß zu Hause bleibt wer krank wird, bis er ganz auskuriert ist. Also nochmal: Abstand und eine gute Hygiene sind wertvolle Hilfe – denn Covid-19 wird nicht mehr verschwinden! 

Was ist von 2G sowie 3G im Öffentlichen Nahverkehr und am Arbeitsplatz zu halten?

Pürner: 2G ist gefährlich, da viele meinen, dann nicht mehr vorsichtig sein zu müssen. Und es ist unnötig – wie 3G in ÖPNV und Büro – eben weil Covid für Nichtvulnerable nicht so gefährlich ist.  

Der Druck auf Ungeimpfte wächst. Was empfehlen Sie ihnen, wenn Sie die Gefahr durch Covid und die unbekannten Risiken einer Impfung abwägen?

Pürner: Gesunden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bis etwa fünfzig Jahre empfehle ich nicht zwingend die Impfung. Ab etwa sechzig dagegen, ja! Von fünfzig bis sechzig? Schwierig! Natürlich: wer jung und vorerkrankt ist, ja. Wer alt, aber fit wie ein Turnschuh ist, nicht unbedingt. Doch ist das nur eine Orientierung! Man kann nicht alle über einen Kamm scheren, muß letztlich jeden Fall einzeln beurteilen und kann ein Restrisiko nie ausschließen.

„Was mir wegen meiner Kritik passiert, das ist Cancel Culture“

Bekannt wurden Sie bundesweit Ende 2020, als Sie als Amtsarzt im Kreis Aichach-Friedberg, wegen, wie Sie sagen, Ihrer Kritik „strafversetzt“ wurden.  

Pürner: Offiziell holte man mich ins Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, weil man dort meine Fachkompetenz brauche. Doch tatsächlich steckt dahinter, auch wenn das nicht zugegeben wird, Verärgerung über meine öffentliche Kritik am fortgesetzt alarmistischen Umgang mit der Pandemie durch Politik und Behörden. Beweis dafür ist, daß ich im Landesamt nie wirklich die Tätigkeit ausübte, wegen derer ich dorthin abgeordnet wurde. Sowie daß ich kurz vor meiner Gerichtsverhandlung erneut versetzt wurde. Denn ich habe gegen meine Abberufung geklagt, und die Verantwortlichen wissen, daß diese vor Gericht keinen Bestand haben wird. Weshalb sie mich erneut versetzt haben – nun zur Regierung von Oberbayern –, wodurch der ursprüngliche Verhandlungstermin nämlich aufgeschoben ist. 

Immerhin wurden Sie aber doch nach oben weggelobt. 

Pürner: Stimmt nicht, das wäre ja mit einer deutlichen Verbesserung von Einkommen und Status verbunden, aber das ist gerade nicht passiert. Zudem ist es unverantwortlich, mitten in einer Pandemie einen eingespielten Amtsleiter abzulösen. Zumal das Gesundheitsamt Aichach-Friedberg bis heute keinen ärztlichen Nachfolger für mich hat. Vor allem aber ist meine Abberufung eine Drohung, den Mund zu halten! Denn ich sage Ihnen, einige Kollegen sehen die Corona-Politik wie ich, trauen sich aber nicht, etwas zu sagen.

Dazu kommt der Versuch, mich in die rechte Ecke zu schieben, zum Querdenker zu stempeln oder als Corona-Leugner zu verunglimpfen. Es darf nicht sein, daß das passiert, wenn fachliche Kritik geübt wird, das ist Cancel Culture! Doch das eigentliche Opfer bin nicht ich, sondern die Bürger – die unter falschen und übertriebenen Corona-Maßnahmen zu leiden haben. Deren Wohl aber, und nicht dem irgendwelcher Politiker, ich mich als Arzt, Beamter und nicht zuletzt als Mensch verpflichtet fühle!

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Puerner
Foto: Tichys Einblick

Dr. Friedrich Pürner. Der Ex-Gesundheitsamtschef und vormalige Dozent an der Bayerischen Landesärztekammer ist Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen. Am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) leitete er die Abteilung Epidemiologie sowie die „Taskforce“ Infektiologie.

„Das sind die beiden Einheiten des LGL, die zentral sind für die Bewältigung der Corona-Pandemie in Bayern“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ 2020, und „Friedrich Pürner ist zweifellos ein Fachmann, der weiß, wovon er spricht“. Geboren wurde er 1967 in München, und vor kurzem erschien sein Buch „Diagnose Pan(ik)demie. Das kranke Gesundheitssystem“.

JF 48/51

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