Herr Professor Pilz, haben wir es nach dem Scheitern von Andrea Yspilanti in Hessen mit einer Verfassungskrise zu tun?
Pilz: Ja und nein. Ja insofern, daß es in Hessen wohl nicht zu einer regulären Regierungsbildung kommen wird. Nein insofern, als die Verfassung ja genau für solche Fälle Vorkehrungen getroffen hat.
Etwa die geschäftsführende Fortsetzung der Regierung durch den bisherigen Ministerpräsidenten, die aber auch nicht ewig währen kann.
Pilz: Nein, schon weil Roland Koch eine Minderheitsregierung nicht lange durchhält. Denn die SPD würde zweifellos – mit Unterstützung der Linken – ihre Inhalte durchzusetzen versuchen, denken Sie nur an die Abschaffung der Studiengebühren: Koch würde vorgeführt werden. Darauf läßt er sich nicht ein.
Wie geht es also weiter in Hessen? Mit einer Jamaika-Koalition?
Pilz: Das glaube ich nicht, dazu sind die Unterschiede zwischen CDU und Grünen in Hessen – und übrigens auch im Bund – viel zu groß. Daß es jetzt in Hamburg dazu kommt, ist zwar spektakulär, aber wohl eher eine lokale Besonderheit. Ich glaube eher, daß Andrea Ypsilanti es ein zweites Mal versuchen wird – nicht im April, aber wohl im Mai. Dann hätten wir eine Minderheitsregierung, die sich einige Zeit durchwursteln wird, bis am Ende vorgezogene Neuwahlen stehen. So meine Prognose.
„Demokratie ohne Partizipation und Legitimation“
Ergebnis dieser Wahl wird sein?
Pilz: Ein weiteres Erstarken der Linkspartei. Statt der 5,1 Prozent jetzt halte ich dann bis zu zehn Prozent für möglich!
Und dann?
Pilz: Dann kommt möglicherweise eine rot-rote Koalition statt nur einer rot-roten Tolerierung.
Prognosen sagen der Linkspartei Wahlerfolge in sämtlichen westdeutschen Bundesländern außer Bayern und Schleswig-Holstein voraus. In Hessen steht die Linkspartei vielleicht sogar knapp davor, Einfluß auf die Regierung zu bekommen. In Hamburg entsteht voraussichtlich eine früher für unmöglich gehaltene schwarz-grüne Konstellation. Erleben wir eine Revolution unseres bisherigen Parteiensystems?
Pilz: Das können Sie so bezeichnen, wenn Sie wollen, denn die Veränderungen sind fundamental. Es ist bestimmt nicht verkehrt, von einem Epochenwechsel zu sprechen. Fachleute sehen uns etwa im Übergang zur sogenannten „Postdemokratie“. Damit ist gemeint, daß die Demokratie im positiven Sinne, im Sinne der Beteiligung der Bürger, ihre Hochzeit hinter sich hat. Früher wußte der Wähler, welche Koalition er mit seiner Stimme mit hoher Wahrscheinlichkeit herbeiwählt.
In Zukunft weiß er immer seltener vor der Wahl, was mit seiner Stimme nach der Wahl geschieht. Er verliert immer mehr an Einfluß, hat das Gefühl, daß er immer weniger bewirken kann. Die Postdemokratie-Theorie geht sogar so weit zu sagen, der Einfluß des einzelnen Wählers tendiert künftig fast gegen Null. Daraus resultiert ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem.
Aber keine Demokratie kann auf die Dauer überleben, wenn die Legitimation der Politik immer weiter erodiert. Denn wenn die Partizipation der Bürger schwindet, wird damit demokratietheoretisch auch die Legitimation der Politik in Frage gestellt. Die Defizite wachsen, die Demokratie im Sinne einer Beteiligung der Bürger, so wie wir sie bisher kennen, gerät in eine tiefe Krise.
Wachsende Unsicherheit als zentrales Merkmal
Im Moment erleben wir vor allem eine Krise bei der Bildung einer funktionstüchtigen Regierung.
Pilz: Ja, ein weiteres zentrales Merkmal ist die wachsende Unsicherheit bei Bildung und Führung von Regierungen, da in einem Fünf-Parteien-System Mehrheiten immer unklarer werden. Das heißt allerdings nicht, daß gleich eine Regierungsunfähigkeit bevorsteht. Aber wir werden mehr Instabilität erleben.
Italienische Verhältnisse?
Pilz: Ausgeschlossen ist das nicht, allerdingsführt das Anwachsen der Parteienvielfalt keineswegs automatisch in diese Richtung. Altbundespräsident Herzog spricht von „europäischen Verhältnissen“: immer mehr Parteien in den Parlamenten und immer öfter Minderheitsregierungen.
Das sind wir in Deutschland natürlich nicht gewöhnt und wir erschrecken: Das ist nicht machbar! So ist Regieren nicht möglich! Die Gestaltungskraft der Politik geht zunehmend verloren! – Es gibt allerdings auch Länder, die damit zurechtkommen.
Die Frage ist, ob Deutschland tatsächlich eher in Richtung Italien oder Osteuropa tendieren wird, wo die Regierungsverhältnisse mitunter rasch wechseln und sogar Abgeordnete während einer Legislaturperiode die Partei wechseln. Oder ob sich Deutschland eher wie zum Beispiel Skandinavien entwickeln wird, wo es auch eine Vielzahl von Parteien gibt, diese aber recht stabil miteinander regieren.
„Die neue Mentalität der deutschen Wähler ändert alles“
Und was sagen Sie voraus?
Pilz: Eine Vorhersage ist schwierig. Immerhin, Mut macht etwa das Beispiel Bundesrat. Denn das Muskelspiel der Beschwörung einer Blockadepolitik in der Länderkammer hat bei genauer Betrachtung so kaum je stattgefunden: Wenn auch auf dem kleinsten gemeinsamen Nennen, so hat man sich aber doch am Ende fast immer zusammengefunden.
Nicht zuletzt auch deshalb gilt Deutschland international eher als Vertreter der Gattung der sogenannten „Konsensdemokratie“. Andererseits aber haben wir nicht die politische Tradition in Sachen Konsens, wie sie etwa die Skandinavier haben. Trotz aller Nähe und Kooperation von CDU und SPD sind die Unterschiede im Vergleich zu den Parteien etwa in Schweden, wo sich Konservative und Sozialdemokraten kaum noch voneinander abheben, doch noch eher groß.
Grundlegender Wandel der politischen Mentalität
Dabei gilt schon jetzt die große Ähnlichkeit von Union und SPD als ein Grund für die Politikverdrossenheit der Deutschen.
Pilz: Das mag, wenn überhaupt, vielleicht in der Vergangenheit so gewesen sein, als weltanschauliche Unterschiede noch eine größere Rolle gespielt haben. Tatsächlich aber haben wir es nicht nur mit einer massiven Veränderung unseres politischen Systems zu tun, sondern auch mit einem grundlegenden Wandel der politischen Mentalität der Deutschen.
Früher waren die Wähler vor allem weltanschaulich gebunden und die Frage der Verteilungsgerechtigkeit spielte keine so betonte Rolle. Diese regelte sich vielmehr dadurch, daß die verschiedenen Parteien nach dem Wahlerfolg durch ihre Politik ihre klassische Klientel an der Verteilung des Gemeinvermögens teilhaben ließen.
Das heißt, erst wurde erwirtschaftet, dann gewählt und dann verteilt. Heute ist der Sinn der Wahlen ein anderer. Es zählen nicht mehr weltanschauliche Loyalitäten, die später per Verteilung belohnt werden, sondern die Wähler wählen gleich nach dem Gesichtspunkt der Verteilung: Die soziale Teilhabe, nicht die weltanschauliche oder milieubedingte Bindung, ist zum ersten Kriterium geworden.
Die Fachleute diskutieren diesen Wandel schon lange, während die meisten Politiker ihn noch nicht realisiert haben. Die Politiker sind überwiegend noch den alten Vorstellungen verhaftet, mit denen sie aufgewachsen sind, die aber heute kaum mehr gelten. Und weil die Politik diesen Wandel nicht versteht, wundert sie sich immer wieder, wenn das heutige Wählerverhalten nicht mehr in ihre ordnungspolitischen Muster paßt.
Traditionelles Wählerverhalten löst sich auf
Das bedeutet, daß eine rechtsbürgerliche Protestpartei heute keine Chance mehr hat – die Zukunft in dieser Sparte gehört der Linkspartei?
Pilz: Im Grunde ja, die Vorstellung, es könnte sich aufgrund bürgerlicher Wertvorstellungen heute noch einmal eine Partei rechts von der Union etablieren, entsprach dem traditionellen Wählerverhalten, das sich derzeit auflöst.
Auch eine Rechtspartei müßte – wenn sie überhaupt eine Chance neben der Linkspartei hat – auf die neue Verteilungslogik abstellen. Klassische rechtskonservative Parteiprojekte haben zumindest in nächster Zukunft wohl keine großen Chancen mehr. Ein Problem haben aber nicht nur eventuelle rechtsbürgerliche Alternativen, sondern etwa auch die FDP, die angesichts des Erstarkens der Linken vor einem massiven Bedeutungsverlust steht.
Denn die alte Rolle, die sie über Jahrzehnte innehatte, Zünglein an der Waage und „Kanzlermacherin“ zu sein, wird sie verlieren. Ich sehe, ehrlich gesagt, keine große Zukunft für diese Partei.
Agenda 2010 als Auslöser
Wie kam es überhaupt zu diesem Wandel?
Pilz: Der konkrete Auslöser war zweifellos der Widerstand gegen die Reformen der Agenda 2010. Was ist die Agenda 2010? Sie war keineswegs einfach ein Regierungsprogramm der verflossenen Regierung Schröder, sondern sie war das Produkt eines Konsenses der Etablierten. Denn ohne die Zustimmung der Union – Stichwort Bundesrat – wäre die Reform so nicht möglich gewesen.
Bei der Agenda 2010 geht also nicht um die herkömmlichen Frontstellungen CDU gegen SPD bzw. Christlich-Liberal gegen Rot-Grün. Die Linkspartei ist vielmehr Ausdruck eines Protests gegen diese konzertierte Aktion der Etablierten, gegen dieses Projekt „der da oben“. Deshalb kommen ihre Wähler auch nicht nur – als Enttäuschte – von CDU und SPD, sondern auch aus dem Reservoir der Nichtwähler und sogar aus dem Segment rechter bis rechtsextremer Wähler.
„Neue Parteien gelten schnell als verfassungswidrig“
Schon untereinander beharken sich die etablierten Parteien mit schwerstem Geschütz. Guido Westerwelle etwa nannte das Verhalten der SPD gegenüber Dagmar Metzger „verfassungswidrig“, Daniel Cohn-Bendit unterstellte dagegen jüngst der hessischen CDU, sie hetze gegen Ausländer und Minderheiten.
Pilz: Ja, aber schauen Sie zurück: Die Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus ist voll von verbalen Entgleisungen. Allerdings trägt das sicher nicht gerade dazu bei, daß sich die Glaubwürdigkeit der Politiker im Volk verbessert.
Merkwürdigerweise aber bleiben – selbst völlig unbegründete – Vorwürfe der Verfassungswidrigkeit an Außenseiter-Parteien meist kleben, während sie an Etablierten, selbst dann wenn das Bundesverfassungsgericht schließlich tatsächlich eine Verfassungswidrigkeit feststellt, teflonartig abgleiten.
Pilz: Der Grund dafür ist, daß die Etablierten am Ende doch immer zusammenhalten. Aber vor allem hängt das natürlich mit der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts durch die Parteien zusammen. Denken Sie nur an den Mitte Februar eskalierten Streit um Horst Dreier, den vorgeschlagenen Nachfolger von Verfassungsrichter Winfried Hassemer, der uns erneut offenbart hat, wie stark die Parteiinteressen bei der Besetzung der Richterämter wirken.
Normalerweise bekommen wir das nicht so mit, weil man sich „in Hinterzimmern“ über die Besetzung der Gerichte einigt, aber an diesem Fall wurde die mitunter schon vergessene Realität in dieser Frage mal wieder sichtbar.
Politik folgt nicht dem Verfassungsideal
Was bleibt da von der vielbeschworenen Unabhängigkeit der Gerichte?
Pilz: Die darf man eben nicht allzu naiv verstehen. Die Großen können aufgrund ihres Einflusses den Verwurf der Verfassungswidrig- bzw. feindlichkeit viel rascher beiseite schieben als kleine Außenseiter. Das ist sicher unfair, aber das ist die Realität.
Neue Parteien sind bekanntlich die Frischzellenkur der Demokratie. Wenn sich die Etablierten durch die Beeinflussung des Verfassungsgerichts abschotten können, ist der demokratische Erneuerungsprozeß doch außer Kraft gesetzt?
Pilz: Das ist schon ein berechtigter Einwand, aber Politik folgt eben nicht dem Verfassungsideal, sondern bewegt sich nach taktischen, pragmatischen und machtpolitischen Gesichtspunkten entlang der Grenzen von Recht und Gesetz, nicht ohne diese manchmal arg zu strapazieren. Die Frage ist also, ob vielleicht andere Elemente für Reform sorgen könnten? Etwa eine stärkere Einbeziehung des Volkes.
Die Lage in Hessen legt etwa die Frage nahe, ob eine Direktwahl des Ministerpräsidenten künftig hilfreich wäre. Fest steht allerdings, daß der Anstoß für solche Änderungen sicherlich nicht aus den Reihen der etablierten Politik kommen wird. Da müßten die Bürger schon selbst, wie Arnulf Baring fordert, „auf die Barrikaden“ gehen.
Prof. Dr. Frank Pilz lehrt Politikwissenschaft an der Hochschule für Politik in München und der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkt des Politologen ist das System der Bundesrepublik Deutschland. Geboren 1950 in Warnsdorf / Oberlausitz, studierte er nach der Flucht der Familie 1961 nach Süddeutschland Politikwissenschaft und Volkswirtschaft. Jüngste Veröffentlichungen: „Globalisierung und Sozialstaat“ (Olzog, 2002), „Das politische System Deutschlands“ (Oldenbourg, 2007).