Herr Professor Demandt, warum gilt die Hermannsschlacht als Auftakt der deutschen Geschichte?
Demandt: Viele europäische Staaten führen ihren Ursprung auf Widerstandskämpfer gegen das Imperium Romanum zurück und dokumentieren dieses mit Denkmälern. In Deutschland etwa bekanntlich mit dem Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. In Frankreich ist es Vercingetorix, Boudicca in England, Ambiorix in Belgien oder Decebalus in Rumänien. Erfolgreich war aber nur Arminius, der „Befreier Germaniens“, wie Tacitus ihn nannte.
Allerdings führte sein spektakulärer Sieg vor fast genau 2.000 Jahren nicht zu einer dauerhaften Einigung, kein gemeinsames Reich der Germanen entstand.
Demandt: Die Einheit ist in der Tat sehr schnell wieder zerfallen. Das Verdienst des Arminius liegt darin, daß die Römer nach dieser Niederlage in Germanien nie wieder Fuß gefaßt haben. Zwar unternahmen sie immer mal wieder Vorstöße, aber sie haben nie mehr ernsthaft versucht, germanisches Gebiet jenseits des Limes zu okkupieren.
Wann begann die deutsche Geschichte also tatsächlich?
Demandt: Die deutsche Geschichte im engeren Sinne beginnt durch die Lösung des ostfränkischen Reiches aus dem karolingischen Imperium mit König Konrad I. im Jahre 911. Das Reich seines Nachfolgers, des Ottonen Heinrich I. seit 919, wird in den Quellen als Regnum Teutonicorum, also deutsches Reich, bezeichnet.
„Mit Konrad beginnt die Kontinuität“
Vielen gilt Karl der Große als Pater Patriae.
Demandt: Das kann man gerne so sehen – da müßte man sich nur mit den Franzosen verständigen. Im Ernst, das ist auch möglich. Es ist eine Frage der Bewertung. Daraus ein weltanschauliches Problem zu machen, ist übertrieben.
Warum neigen Sie dennoch Konrad I. zu?
Demandt: Weil mit Konrad die Kontinuität beginnt: Seitdem haben wir permanent deutsche – also ostfränkische, später sächsische und alamannische – Herrscher.
Die Enkel Karls des Großen teilten dessen Reich und 840 nach Christus wird im Ostfrankenreich Ludwig der Deutsche König. Warum gilt nicht er als Begründer unserer Nation, trägt er das „deutsch“ doch im Namen?
Demandt: Das stimmt. Doch er gehört zwar zu den Ostfranken, steht aber noch völlig im karolingischen Kontext.
Die Deutschen erfaßt im 19. Jahrhundert eine wahre Hermannsbegeisterung als Reaktion auf die napoleonische Besatzung. Ist der Kaiser der Franzosen also der heimliche Vater unserer Wiederentdeckung der Hermannsschlacht?
Demandt: Nein, das geht schon viel früher los. Denken Sie zum Beispiel an Daniel Caspar von Lohenstein, einer der Hauptvertreter der Zweiten Schlesischen Dichterschule, und seinen gewaltigen Roman „Großmütiger Feldherr Arminius“ der, 1689/90 erschienen, etwa 3.000 Seiten umfaßte und einen Höhepunkt der barocken Romankunst in Deutschland darstellt.
Natürlich spielt Napoleon eine enorme Rolle für die Entwicklung des deutschen Selbstbewußtseins nach 1813, aber da nun Arminius direkt einzubeziehen ist nicht so ganz einfach. Das kann man zwar machen, aber dazu muß man einzelne Quellen herausheben und diese für symptomatisch erklären. So etwas ist immer problematisch.
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„‘Teutscher Held’ und ‘erster Vaterlandsverteidiger’“
Was also hat die Hermann-Begeisterung ausgelöst?
Demandt: Der erste Höhepunkt ist im Humanismus: Die Humanisten entdecken die Klassiker wieder und damit auch einen Sinn für die eigene Geschichte. Unter diesen Klassikern auch das Werk „Germania“ von Tacitus über Geographie und Kultur der Germanen, vermutlich aus dem Jahr 98 nach Christus.
Also ausgerechnet die so weit zurückliegende Antike wird zum Geburtshelfer einer so modernen Erscheinung wie des Nationalbewußtseins?
Demandt: Man kämpfte mit Hilfe des Vorgestern gegen das Gestern. In der Renaissance ist der Rückgriff auf Griechen, Römer und Urchristen wichtig, um das aus damaliger Sicht „finstere Mittelalter“ zu überwinden. Da kam den deutschen Humanisten ein so außergewöhnliches Ereignis in ihrer Geschichte wie Arminius und die Varusschlacht natürlich sehr gelegen. Man denke etwa an Ulrich von Hutten, der in seinem, allerdings erst 1529 postum erschienenen, „Arminius“ diesen als „ersten Vaterlandsverteidiger“ rühmt.
Luther, der ihm den Namen Hermann gibt und ihn einen teutschen Held nennt, hat sich auf ihn berufen: Er selbst sei der neue Arminius, der gegen Rom kämpft – damals die Kaiser, heute der Papst. Diese Verehrung der Geschichte durch die Humanisten kam später der Nationalstaatsidee der Romantik entgegen, so daß seitdem Arminius im Bewußtsein präsent ist.
Was, wenn die Antike an Deutschland bzw. Germanien vorbeigegangen wäre?
„Die haben da ein Loch “
Demandt: Dann hätten wir ein ähnliches Problem wie zum Beispiel die Schweden oder Finnen.
Nämlich?
Demandt: Die haben da ein Loch, da ist nichts und sie müssen sich mit prähistorischen Funden behelfen.
Die Hermannsschlacht also als wichtiger Baustein zur Herausbildung eines funktionierenden Nationalbewußtseins der Deutschen?
Demandt: Der Rückgriff auf die Vergangenheit hat zu allen Zeiten den Stolz der Völker beflügelt, war eine Quelle des Selbstbewußtseins, aber auch der Selbstgefälligkeit und der Selbstüberschätzung. Mit Geschichte ist in der Politik immer argumentiert worden, doch hat man sie zu diesem Zweck nicht selten zurechtgebogen.
Wie weit reicht die deutsche Nationalität tatsächlich in unsere Geschichte zurück?
Demandt: Nationalität finden wir schon bei Walther von der Vogelweide, um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert. Doch Nationalität als breite Volksbewegung setzt eine funktionierende Öffentlichkeit voraus. Und eine funktionierende Öffentlichkeit ist auf ein Medium angewiesen, und das war zur Zeit Walthers von der Vogelweide noch nicht gegeben. Eine „Öffentlichkeit“ im strengen Sinne hat es in Deutschland vor den Flugblattaktionen im 16. Jahrhundert gar nicht geben können.
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„Erst Römer, dann Franzosen – heute fehlt uns der Gegner“
Heute ist die Hermannsschlacht aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit verschwunden. Gibt es überhaupt noch ein historisches Selbstverständnis der Deutschen?
Demandt: Die Varusschlacht ist keineswegs aus dem Bewußtsein entschwunden, sondern wird mit zunehmendem Erfolg publizistisch vermarktet. Noch nie seit 1945 gab es so viele einschlägige Publikationen, Ausstellungen, Kongresse, Interviews und ähnliches wie 2008 und 2009.
Die heißblütige National- und Freiheitsbegeisterung, die die Schlacht noch im 19. Jahrhundert ausgelöst hat, ist verschwunden.
Demandt: Das stimmt. Im 19. Jahrhundert war die Arminius-Begeisterung weitgehend politisch, heute ist sie weitgehend touristisch. Der Grund dafür ist natürlich auch, daß die Franzosen nicht mehr unsere Feinde sind. Heute fehlt also sozusagen der Gegner, um eine entsprechende Begeisterung zu befeuern. Denn im 19. Jahrhundert traten die Franzosen in der Wahrnehmung an die Stelle der Römer. Natürlich ist das Hermannsdenkmal stark antifranzösisch konnotiert.
Das erhobene Schwert des Arminius auf dem Denkmal bei Detmold und sein Blick nach Westen bezeugen die Gefahr, die man im 19. Jahrhundert – eben nach der Erfahrung mit Napoleon – von dort witterte. Zu späteren Zeiten hätte man den Recken wohl umdrehen müssen.
Der Denkmal- und Geschichtskult im 19. Jahrhundert war insgesamt sehr stark nationalistisch, wenn nicht gar militaristisch aufgeladen. Allerdings war das keine deutsche Spezialität, das gab es ebenso etwa in England oder Frankreich. Es stellt also keine Sonderentwicklung dar, sondern ist typisch für die damalige Zeit.
„Gescheitert ist die Behauptung der Grenzen von 1871“
Was also ist dran an der heute mitunter beliebten Darstellung der deutschen Geschichte als einem Irrweg?
Demandt: Von einem Scheitern Deutschlands ganz pauschal kann man kaum sprechen. Gescheitert ist die Behauptung der Grenzen von 1871, die Bewahrung der führenden Rolle Deutschlands auf vielen Ebenen der Technik und der Wissenschaft in der Zeit danach und eine gleichmäßig verlaufende Entstehung der parlamentarischen Demokratie. Eine wesentliche Ursache dafür sind die beiden Weltkriege. Da auch ohne sie eine Entwicklung zu einer demokratischen Gesellschaft denkbar gewesen wäre, müssen wir den Politikern, die jene Fehlschläge zu verantworten haben, nicht unbedingt dankbar sein.
Und zum Beispiel die Rede von der „verspäteten Nation“ beruht auf einem verengten Blickwinkel, der allein die Verfassungsentwicklung im Auge hat und unsere Nachbarn im Süden oder Osten ignoriert. Sind sie nicht noch „verspäteter“? Ob man eine Geschichte als gelungen oder mißglückt versteht, hängt ab von Erwartungen, die man an sie stellt. Historische Gebilde sind grundsätzlich vergänglich. Bei allen Völkern gibt es schwarze Seiten, die mitunter verdrängt, bisweilen auch bewußt thematisiert werden. Beides dient der Absicht, sich ein Selbstbild zu schaffen, das sich sehen lassen kann.
Also ist populäre Geschichtsschreibung im Grunde eine Form von moderner Mythologie?
Demandt: Unter Mythos versteht man im allgemeinen eine sagenhafte Geschichtsüberlieferung, die stark emotional gefärbt ist. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht unter anderem darin, dies klarzulegen. Lesbare historische Werke müssen keineswegs mythologisch gefärbt sein. Die großen Historiker des 19. Jahrhunderts sind da übrigens Muster an Objektivität, auch wenn gelegentlich mit ihnen der Geniekult durchgeht. Das gilt selbst für einen Mann wie Heinrich von Treitschke.
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„Die Identität von Völkern wurde an die Sprachzugehörigkeit gekoppelt“
Gesine Schwan lehnte jüngst die Festschreibung der deutschen Sprache im Grundgesetz mit dem Argument ab, daß „Identität in der modernen Gesellschaft vielschichtig“ sei. Gibt es also folglich gar keine „Deutschen“ mehr?
Demandt: Die Identität von Völkern wurde in der Vergangenheit überwiegend an die Sprachzugehörigkeit gekoppelt. Seitdem es aber Staaten mit Bürgern unterschiedlicher Sprache gibt und Sprachen, die nicht nur in einem Staat gesprochen werden, kompliziert sich die Begriffsbestimmung der Zugehörigkeit. Nichtsdestoweniger bleibt die Sprache das brauchbarste Kriterium für die Volkszugehörigkeit im weiteren Sinne.
Hat also auch die Nationalgeschichte noch Zukunft?
Demandt: Die Dominanz der Nationalgeschichte wird natürlich zunehmend relativiert durch die fortschreitende Globalisierung. Als Gegenbewegung ist eine Regionalisierung im Gang. Trotzdem bleibt die Nationalgeschichte zwischen Weltgeschichte und Landesgeschichte ein zentrales Thema des öffentlichen Interesses.
Der renommierte Althistoriker Alexander Demandt und Kulturwissenschaftler, geboren 1937 in Marburg, gilt als einer der Fachmänner für die Geschichte der Antike. Demandt beschäftigte sich vor allem mit dem Phänomen des Niedergangs in der Geschichte, aber auch mit der Frage nach Deutschland und den Deutschen. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind zum Beispiel zu nennen: „Der Fall Roms“ (1984), „Deutschlands Grenzen in der Geschichte“ (1990), „Das Ende der Weltreiche“ (1997, alle C.H. Beck). 2007 erschien „Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte“ bei Propyläen