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„Auf dem Weg in den Autismus“

„Auf dem Weg in den Autismus“

„Auf dem Weg in den Autismus“

 

„Auf dem Weg in den Autismus“

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Herr Professor Brock, seit einiger Zeit haben wir – per Akklamation des Feuilletons – den „Neuen Feminismus“ in Deutschland. Sind Sie auch total begeistert?

Brock: Sie scherzen.

Warum sind dann alle so hin und weg?

Brock: Weil das Leservolk stets glaubt, mit seiner ersten Wahrnehmung der Dinge erschienen selbige auch zum ersten Mal überhaupt in der Weltgeschichte. Motto: „Was ich nicht kenne, hat es vorher auch nicht gegeben.“ Ein üblicher Irrtum, ein bekanntes Phänomen.

Über 430.000 Exemplare hat Frau Roche bisher verkauft. „Da muß (also) mehr dran sein“, rätselt die „taz“.

Brock: Mit Verlaub, Roches Buch ist doch einfach nur Krampf. Der Grund für den Erfolg ist der: Sie tut das, was uns die politische Korrektheit verbietet. Nehmen Sie zum Vergleich nur jüngst den Fall Jonathan Littell. Wer hätte es sich bisher erlauben dürfen, sich literarisch dem Stil eines Leon Degrelle – eines nationalsozialistischen, sagen wir, „Systemveränderers“ belgischer Herkunft – zu nähern? So was gilt offiziell als Inbegriff der Widerwertigkeit.

Nun kommt Littell und exerziert all die nationalsozialistischen Versuche durch, sich in der gähnenden Leere der Welt zu behaupten, er proklamiert ihr existentialistisches Pathos im Erfahren des reinen Nichts, wiederentdeckt ihren Heroismus des Kämpfers als einzigen Wert in der völligen moralischen Verwahrlosung und Ziellosigkeit der Welt. Warum darf Littell das? Weil er offensichtlich glaubt, mit seiner jüdischen Herkunft unangreifbar zu sein. Was bei anderen ein Skandal wäre, wird bei ihm als phantastischer neuer Perspektiven-Zugang zur Sozialpsychologie der Nationalsozialisten gefeiert.

„Die eigenen Prinzipien werden aufgegeben“

Sie meinen, wenn zwei dasselbe tun, ist es eben noch lange nicht das gleiche?

Brock: Ja, denn so geht das in einem fort. Die Nazis sind für ihren Angriffskrieg noch in Nürnberg gelandet, vor George Bush kniet dagegen die westliche Welt – ein Henry Kissinger hat sogar den Friedensnobelpreis bekommen. Eugenik gilt wie Angriffskriege eigentlich extrem als „Nazi“ – außer offenbar wenn es in Labours Großbritannien staatlich finanziert wird.

Auch ethnische Säuberungen sind eigentlich unbedingt geächtet, aber die Beneš-Dekrete – Motto: Schmeiß die Leute aus ihren Häusern und nenne es „Pazifizierung“ – sind inzwischen sogar europäisches Recht! Ich wage die Vermutung: Hätte ein Mann statt Frau Roche dieses Buch geschrieben: Ach, Du lieber Himmel! Aber weil sie es ist, wird ihre Ökonomisierung des Sex zum aufklärerischen Moment stilisiert und sozusagen als Pflichtkonsum verordnet.

Pflichtkonsum?

Brock: Das Buch erreicht auch deshalb diese Verkaufszahlen, weil medial eine Dynamik erzeugt wird, die nahelegt, man müsse hier mitmachen, um scheinbar gesellschaftlich auf der Höhe zu sein.

Sie gehen hart ins Gericht mit den neuen Feministinnen.

Brock: Mir geht es nicht um Frau Roche, ebensowenig wie um Herrn Littell oder George Bush. Ich kritisiere, daß sich unsere Öffentlichkeit auf diese Dinge einläßt und das dann zum Vorwand nimmt, gegen die eigenen Prinzipien zu verstoßen, ja sie gar aufzugeben.

Daß wir ziemlich bedenkenlos die Regulierungskräfte des Menschen, also die Frage „Was schulde ich mir selbst an Würde?“ und „Was schulde ich unserer sozialen Gemeinschaft?“ aussetzen, ist fatal und läßt die Fundamente unseres bundesrepublikanischen Selbstverständnisses zerbröseln.

„Dauernde sexuelle Reizung läßt keinen natürlichen Zyklus mehr zu“

Frau Roche „zieht sich aus“ und wird als gesellschaftliche Befreierin gefeiert. Wieso zieht auch Jahrzehnte nach der sexuellen Revolution noch der Trick mit den Schweinigeleien?

Brock: Das hat mit unserer Stammesgeschichte zu tun. In unserem Zwischenhirn gibt es eine Instanz, die dafür sorgt, daß wir uns einerseits auf lustbereitende Attraktoren einlassen, andererseits aber auch wieder von ihnen wegzukommen trachten – und zwar durch Ekelerzeugung. Beispiel, wer sich an etwas überfrißt, den kann man anschließend erstmal „damit jagen“, wie man sagt. Umgekehrt führt aber diese Abstinenz zum Aufbau eines neuen Lustpotentials, das dann durch den nächsten Attraktor wieder freigesetzt werden kann. Ein natürlicher Kreislauf.

Übersetzt: Nach Roche kommt irgendwann wieder Roche?

Brock: Eben, obwohl wir im Moment den Eindruck haben, spätestens jetzt sei doch wohl alles gesagt. So ist das nun mal – und so weit ist es auch gut. Aber neu ist, daß es bisher wohl noch keine Kultur gegeben hat, die so grundlegend das gegenläufige, sich bedingende Verhältnis von Attraktion und Abstoßung auseinandergezogen hat wie die unsere. In vieler Hinsicht haben wir diese Koppelung fast schon lahmgelegt. Sexualität etwa ist bei uns fast omnipräsent. Wir kennen das Problem vom Alkohol, wo der Zyklus von Anziehung und Abstoßung bei vielen Menschen nicht funktioniert: Die Leute saufen dann immer weiter, bis sie ins Koma fallen.

Die dauernde sexuelle Reizung in unserer Gesellschaft läßt keinen natürlichen Zyklus mehr zu. Denn Dauerbefriedigung macht den Aufbau eines neuen Lustpotentials unmöglich. Der Kreislauf von Lust und Ekel, Ekel und Lust ist unterbrochen, die Reaktion darauf ist die Unfähigkeit, Lust zu empfinden: Alles wird schal.

Da der Reiz nicht mehr die Befriedigung bringt, werden Dosis und Taktzahl erhöht. Eine Sucht entsteht. Experimente mit Ratten des US-Nobelpreisträgers Roger Sperry haben das bewiesen. Sucht aber führt letztlich zu sozialpsychologisch deformierten Menschen, zu Autisten. Gegen diesen Weg in den Autismus hat sich eine Gesellschaft zur Wehr zu setzen!

„Die schamvollen Gesellschaften sind die wirklich lustvollen“

Danach sieht es aber nicht aus. Im Gegenteil,  die Neuen Feministinnen propagieren den Konsum von Pornographie – sehr zum Verdruß von Alice Schwarzer.

Brock: Das Argument, mit dem sich die Menschen gegen Pornographie wehren, ist bekanntlich der Hinweis auf deren Ekelhaftigkeit. Das ist keine spießige Einstellung, sondern hat seine guten Gründe: Wer Ekel empfindet, der hat noch die Möglichkeit, sich von einer Lustquelle wieder abzuwenden. Wer keinen Ekel mehr empfindet, der hängt dagegen fest. Natürlich, auch wer „ekelhaft!“ sagt, schaut hin, auch er unterliegt einem Lustreiz und dem Psychoeffekt der faszinierten Abscheu. Aber er hat doch auch noch Widerstand in sich, um sich abzukoppeln.

Wer dagegen Pornographie vorbehaltlos toll findet wie die neuen Feministinnen, wer also nur die eine Seite sieht, der verkennt, daß der Ekel das entscheidende Regulativ für die Lust ist. Aus diesem Grund sind die schamvollen Gesellschaften genau genommen auch die lustvolleren. Der muslimischen Kultur etwa wird von uns Lustfeindlichkeit unterstellt, Stichwort Verhüllung.

Tatsächlich aber wird dort der Attraktor verhüllt, um die direkte Triebabfuhr unmöglich zu machen und damit den vitalen menschlichen Zusammenhang zwischen Anziehung und Abstoßung funktionstüchtig zu halten. Erotik spielt in der islamischen Gesellschaft eine größere Rolle als bei uns, wo für diese Lust vor lauter Sex kein Platz mehr ist.

„Im Zentrum des Marien- wie des Minnekults stehen die Frauen“

Ob nun pro oder contra Porno – die Frage ist: Ist der neue Feminismus überhaupt ein Feminismus?

Brock: Vergessen wir mal die in den tagesaktuellen Debatten der letzten Jahrzehnte strapazierte Interpretation des Feminismus als politisches Schlagwort. Die Frage ist: Was ist Feminismus eigentlich? Im Grunde ist er eine Reaktion darauf, daß die Gesellschaft im Laufe der Geschichte in hohem Maße ihr weibliches Entwicklungspotential ungenutzt gelassen hat. Denken Sie etwa zum einen an den Marien-, zum anderen an den Minnekult des Mittelalters, die beide ab dem 10. Jahrhundert zur Hochzeit der höfischen Lebensweise geführt haben.

Vor gut zweihundert Jahren haben die Historiker erstmals beide Phänomene rekonstruiert und konstatierten: Im Zentrum beider Kulte stehen die Frauen. Frauen, die den „Oikos“, den „Herd“, funktionstüchtig halten. Worauf sich übrigens die ökonomische Bedeutung der Arbeit von Frauen in- und außerhalb des Hauses gründet. Mit der Rolle, die diese Kulte spielen, wurden Frauen zu „Zivilisationsagenten“. Denn in der Haudegen-Gesellschaft der damaligen Zeit hatten diese Kulte um frauliche Einstellungen und Verhaltensweise eine nicht zu unterschätzende zivilisatorisch verfeinernde Wirkung.

Nicht zuletzt dieser Stand der Dinge im 19. Jahrhundert trägt übrigens dazu bei, daß sich zum Beispiel ein Autor wie Heinrich von Kleist mit einem Stoff wie „Penthesilea“, also der frauenbeherrschten Amazonen-Welt, beschäftigt. Der 1815 geborene Schweizer Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen entdeckt dann das „Mutterrecht“, wonach es nicht nur patriarchale, sondern auch matriarchale Gesellschaften gegeben hat und daß diese den patriarchalen tatsächlich Konkurrenz zu bieten vermochten.

„Universalismus und Regionalismus liegen im Kampf miteinander“

Später beziehen sich konservative Autoren wie Ludwig Klages, Robert Graves, Thomas Mann oder Ju­lius Evola auf Bachofen.

Brock: Eben. Und man reflektiert die Unterscheidung, Frauen und Männern verschiedene Prinzipien zuzuordnen: den Frauen den Universalismus, der auf das zivilisatorische, den Männer den Regionalismus, der auf Kultur und Stammesreligion zielt. Beide Prinzipien liegen bis heute im Kampf miteinander. Warum der Feminismus gesamtgesellschaftlich bei uns heute so hoch im Kurs steht, hat auch damit zu tun, daß sein universalistisch-zivilisatorisches Prinzip gut zu unserer sich globalisierenden Welt paßt.

Die alte Gesellschaft kannte also einen Rollenunterschied zwischen Frau und Mann, den die moderne Gesellschaft zunehmend vergessen hat. Darauf ist der Feminismus eine Reaktion?

Brock: In gewisser Weise ja, Feminismus ist eigentlich nicht als politische Kampfhaltung, sondern als ein Wirkungsprinzip in der Geschichte zu verstehen. Denken Sie nur zum Beispiel an das Britische Empire, das ohne Zweifel auch eine ungeheuere Weiterentwicklung des zentral an der Frau orientierten Gentleman-Prinzips und des zivilisatorischen Universalismus gewesen ist. Ähnliches finden Sie zum Beispiel auch im Österreich Maria-Theresias, mit wirklich ganz erstaunlichen Differenzen zu den männlich regierten Reichen der damaligen Zeit.

„Die Konservativen haben sich den Feminismus wegnehmen lassen“

Der höfische Minnekult, der religiöse Marienkult, die „Oikos“-Pflege von Heim und Herd – lauter konservative Inhalte. Warum gilt Feminismus eigentlich als links?

Brock: Mit der Modernisierung der Gesellschaft verfielen die „natürlichen“ Herrschaftsbereiche der Frau. Unter den sich so verändernden Bedingungen forderten Frauen schließlich Anteil an der neugestalteten Gesellschaft. Damit gerieten sie ins linke Lager. Schuld daran sind auch die Konservativen, die so dumm waren, dies zuzulassen, weil sie nicht mehr erkannten, welche gewichtige Rolle die Frau in der vormodernen Welt spielte und erst recht in der zukünftigen spielen würde, und die sich das Thema wegnehmen ließen.

Um was es also geht, ist zu erkennen, daß der Feminismus auf anthropologischer Basis steht, insofern als er die geschlechtsspezifischen Grundmuster des Verhaltens für sich hat, aber auch die kulturgeschichtlichen Erfahrungen damit.

Was von all dem findet sich noch bei Frau Roche?

Brock: Nichts. Das ist ja auch kein Feminismus, denn hier fehlt die soziale, die psychologische, die politische und ökonomische Seite. Feminismus ist nicht durch das Phänomen der Sexualität bestimmt, sondern durch die Rolle der Frau in der Entwicklung der Kultur und Geschichte. Roche ist Bluff. Sie benutzt die Marke Feminismus lediglich – ob aus Unverstand oder aus Kalkül.

Prof. Dr. Bazon Brock: Der Dramaturg,  Aktionskünstler, TV-Moderator und Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung (www.bazonbrock.de) ist von zahlreichen Medien- und Live-Auftritten bekannt. Er lehrte in Wuppertal, Hamburg und Wien und ist der Vater des „Action Teaching“ und der sogenannten „Besucherschule“ auf der Kasseler Documenta.

Brock, geboren 1936 in Stolp in Hinterpommern, moderierte die 3 Sat-Fernsehsendung „Bilderstreit – Kunst im Gespräch“, veröffentlichte Hörspiele, Video-Dokumentationen und zahlreiche Bücher, zuletzt: „Der Barbar als Kulturheld“ (2002) bei DuMont.

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