Herr Professor Hankel, Sie sagen: ohne Trümmerfrauen kein Wiederaufbau Deutschlands.
Hankel: Ja und das, obwohl die Aufbauleistung der Trümmerfrauen volkswirtschaftlich gar keine allzu große Rolle gespielt hat.
Wie kommen Sie dann zu Ihrer Aussage?
Hankel: Die Trümmerfrauen haben Deutschland als existentielles Kontinuum gerettet. Man muß sich vergegenwärtigen wie Deutschland 1945 aussah: Unsere Städte glichen Mondlandschaften, Schlachtfeldern! Ich habe damals das völlig vernichtete Kassel und Mainz selbst erlebt. Die Zerstörung war so total, daß vielen ein Wiederaufbau unmöglich schien.
Es gab die ernsthafte Überlegung, die alten Städte aufzugeben und an anderer Stelle ganz neue zu bauen. Die Trümmerfrauen bereiteten mit ihrer unverzüglichen und unermüdlichen Arbeit den Boden für den Wiederaufbau der verwüsteten Altstädte vor, sie können durchaus als die Retter der Innenstädte gelten.
Die Rettung der Innenstädte ist aber noch nicht mit der Rettung Deutschlands gleichbedeutend.
Hankel: Viel wichtiger noch als diese reale Bedeutung ist ihre symbolische: Am Tag der Kapitulation waren viele Deutsche von einem „Finis Germaniae“-Gefühl erfüllt. Die Welt stand still, die Geschichte schien ausgelöscht. Die totale Niederlage der Stunde Null nahm vielen jede Zuversicht. Doch dann hörte man plötzlich überall dieses leise Hämmern und Klopfen, sah das unauffällige, aber geschäftige Treiben zwischen den Trümmern.
Der Geist, den die Trümmerfrauen verkörperten, war: Weiterleben statt Aufgeben, Anpacken statt Wehklagen, Aufbauen statt Abfinden. Ohne sich dessen bewußt zu sein, haben die Trümmerfrauen Deutschlands „Élan vital“ gerettet. Sie waren die ersten, die wieder – ganz praktisch – eine Perspektive verkörperten: Das Leben geht weiter. Deutschland war niemals solidarischer als damals.
25 Prozent aller Wohnungen waren völlig zerstört, 40 Prozent aller Verkehrsanlagen und rund 400 Millionen Kubikmeter Schutt bedeckten die deutschen Städte.
Hankel: Die Trümmerfrauen waren natürlich nicht in der Lage, alles dies mit bloßen Händen und Spitzhacken wiederaufzubauen. Schweres Gerät stand nicht zur Verfügung. Wie schwer ihre Arbeit war, zeigen zum Beispiel die Worte des jungen Heinrich Böll, der, selbst zu Enttrümmerungsarbeiten herangezogen, schrieb: „Nach zwei Stunden bin ich schweißüberströmt, es schwindelt mir vor Augen – und wenn ich dann zu den Ärzten gehe, sagen sie, es ist nichts.“ Tatsächlich währte die Zeit der Trümmerfrauen nur kurz, nämlich von 1945 bis etwa 1948, danach begann die Bauindustrie wieder anzulaufen. Sie war es, die den eigentlichen Wiederaufbau bewerkstelligte.
„‘mächtige, kräftige Weiber …’ – Plötzlich war die Frau der Boß“
Die Trümmerfrauen waren zugleich die Mütter der sogenannten vaterlosen Generation.
Hankel: Das ist richtig. Diese Frauen arbeiteten nicht nur hart für den Wiederaufbau, sie sorgten zugleich für die Familie und erzogen die Kinder, da die Männer im Krieg oder in Gefangenschaft geblieben waren. Der Schriftsteller Peter Härtling spricht von den „mächtigen, kräftigen Weibern … den notgedrungen emanzipierten Müttern, die mit Selbständigkeit, Witz und Verve die Kinder erzogen“. Ich selbst arbeitete damals auf einem Bauernhof als Knecht, mein Boß war, wie fast überall, eine Frau.
Wie war das für Sie?
Hankel: Zunächst ungewohnt. Aber dann hat man sich schnell daran gewöhnt. Ich bin sicher: Auch wenn die Frauen nach der Rückkehr der Männer bis 1955 wieder zur Rolle als Hausfrau und Mutter zurückkehrten, etwas von dieser kollektiven Emanzipations-Erfahrung ist unterschwellig geblieben. Nicht zuletzt darauf baute die spätere Frauen-Emanzipation auf. Ohne diese Erfahrung, daß Emanzipation Verantwortung bedeutet, hätte diese viel länger gebraucht.
Die Trümmerfrauen wurden zum ersten Nachkriegsmythos der Deutschen. Dann kam jedoch der Marshallplan – und damit unterschwellig die Vorstellung, die Deutschen verdankten den Aufbau nicht eigener Anstrengung, sondern amerikanischem Geld.
Hankel: Nichts könnte falscher sein. Denn die Marshallplan-Hilfe bestand nicht aus Geld, sondern nur aus Lebensmittelspenden. Die allerdings waren wichtig, um die hungernden Deutschen am Leben und arbeitsfähig zu halten.
Dennoch, der Marshallplan-Mythos hat den Trümmerfrauen-Mythos verdrängt.
Hankel: Die Deutschen selbst glorifizierten den Marshallplan, die Amerikaner hatten dazu ein eher nüchternes Verhältnis. Die Deutschen selbst waren es, die die Trümmerfrauen zunächst recht schnell in Vergessenheit gerieten ließen. – Und es war erst die Frauen-Emanzipationsbewegung, die sie wieder zurück ins gesellschaftliche Bewußtsein brachte!
Warum ließen die Deutschen das zu?
Hankel: Weil der Marshallplan – wie die Trümmerfrauen – eine seine Realität überragende symbolische Bedeutung hatte.
Nämlich?
Hankel: Er stand für den Handschlag der USA mit den Feinden und Besiegten von gestern: Er machte diese zu Partnern. Daß die USA Westdeutschland im Kalten Krieg an ihrer Seite brauchten, bedeutet damals einen abrupten Rollenwechsel für die Deutschen, den man sich heute kaum noch vorstellen kann: eine Erhebung aus der totalen Erniedrigung zu Gleichberechtigten. Und das zwang auch die auf Rache und Reparationen sinnenden Briten und Franzosen, ihre Politik gegenüber Deutschland zu ändern.
„Der Mythos vom Marshallplan und Gastarbeitern“
Was bedeutet der Marshallplan real?
Hankel: Sein Volumen und die anderer Hilfen war mit etwa drei Milliarden US-Dollar eher bescheiden. Der Vorgänger des späteren Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, Ludwig Semmler, nannte die Leistungen spöttisch eine „Hühnerfutterhilfe“ – was ihn das Amt kostete. Die eigentliche Bedeutung des Marshallplans lag in seinen Folgewirkungen auf dem Finanzsektor.
Denn erstens dienten die Hilfen dazu, wieder einen deutschen „Staatsschatz“ zu bilden: nämlich das noch heute existierende sogenannte ERP-Sondervermögen. Und zweitens darin, das zerstörte deutsche Banken- und Kapitalmarktsystem wiederzubeleben.
Woher aber kam der Wiederaufbau?
Hankel: Theoretisch hätte Deutschland seine Wirtschaft auch ohne diese Hilfe ankurbeln können, etwa indem die KfW, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die die Erlöse aus dem Marshallplan verwaltet, ihre Kredite einfach gedruckt hätte – was in der damaligen Situation nicht einmal eine Inflation zur Folge gehabt hätte. Wie gesagt, theoretisch – denn die Frage ist, hätte das angesichts der damaligen Umstände funktioniert? Es gab weder eine Zentralbank noch einen Geldmarkt – es fehlte ja überhaupt eine staatliche Zentralverwaltung.
Der Marshallplan und die Trizone schufen also die Basis für den Wiederaufbau. Der Wiederaufbau selbst war jedoch eine rein deutsche Leistung, denn er kam aus dem deutschen Wirtschaftspotential. Tatsächlich war die deutsche Industrie durch den Krieg weit weniger in Mitleidenschaft gezogen als etwa die deutschen Städte. Ihren höchsten Produktionsindex erreichte sie im Januar 1945!
Mit dem Schritt vom Wiederaufbau zum Wirtschaftswunder wurde die Wiederaufbau-Mythologie der Deutschen dann zunächst wieder nationalisiert.
Hankel: Richtig, denn die deutsche Wirtschaft nahm an Fahrt auf und ging zur Selbstfinanzierung durch Gewinne und Kredite über. Heute wird behauptet, dieses verdankten wir im wesentlichen den Gastarbeitern. Das ist blanker Unsinn, tatsächlich haben uns die Gastarbeiter wirtschaftlich gesehen sogar eher Nachteile gebracht: Denn erstens überstiegen die gesellschaftlichen Kosten für ihre soziale Betreuung ihre Wertschöpfung.
In den sechziger Jahren gab es eine kurze Debatte darüber – die aber leider angesichts der Abhängigkeit der deutschen Publizistik von den Interessen der Wirtschaft bald abgewürgt wurde. Zweitens verhinderte die Anwerbung der Gastarbeiter sowohl eine höhere Lohn- wie eine höhere Investitionsquote. Letztlich waren sie also eher eine Fortschrittsbremse, da sie Deutschland die Möglichkeit einer verbesserten Kapitalausstattung nahmen und höhere Arbeitseinkommen verhinderten. Das gilt übrigens auch für die Zuwanderung von heute!
Im Symbol der D-Mark erlangte die mit den Trümmerfrauen begonnene deutsche Wiederaufbau- und Wirtschaftswunder-Mythologie schließlich Permanenz.
Hankel: Ein Symbol, daß uns 1999 genommen wurde. Mit fatalen Folgen, wie ich es in meinen beiden zusammen mit drei Kollegen verfaßten Streitschriften „Die Euro-Klage“ und die „Die Euro-Illusion“ dargestellt habe. Denn man kann Währung und Staat nicht trennen. Wer es doch tut, der schafft die Volkswirtschaft ab und damit langfristig auch den Staat.
Damit brechen in der Gesellschaft Sozialsystem und Solidarität zusammen. Die Nation verliert ihr „Gefäß“ und ihre innere Bindung. Das, was die Trümmerfrauen 1945 über die Katastrophe hinübergerettet haben, wird heute also verspielt.
„Heute zahlt Deutschland einen ‘geheimen EU-Marshallplan’“
In Ihrem neuen Buch „Die Euro-Lüge“ zeigen Sie, daß es heute Deutschland ist, das eine Art stillen Marshallplan für ganz Europa bezahlt.
Hankel: Ja, denn durch das Euro-System kommen unsere Export- und Leistungsbilanzüberschüsse nicht mehr wie zu D-Mark-Zeiten der deutschen Volkswirtschaft, also allen Deutschen, zugute. Sie verschwinden im Euro-Pool in den Defiziten unserer Partner. 2006 hatte Deutschland einen Überschuß von knapp 200 Milliarden Euro, die Euro-Zone aber insgeamt weniger als zehn Milliarden.
Das heißt mit 190 Milliarden Euro, fünf Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes, finanzieren wir die Defizite unserer Währungspartner und damit deren innere Inflation! Es gibt also so etwas wie einen den Bürgern verheimlichten „deutschen Marshallplan“ für die EU. Dadurch ist unser Pro-Kopf-Einkommen heute das viertletzte in der Union – und es lag einmal auf Platz eins! Hinter uns kommen nur noch Spanien, Portugal und Griechenland.
Hauptleidtragende sind die deutsche Binnenwirtschaft und der deutsche Mittelstand: Er stellt siebzig Prozent der Investitionen und achtzig Prozent der Arbeits- und Ausbildungsplätze. Trauriges Fazit nach einem halben Jahrhundert Wiederaufbau: Wir verarmen durch den Euro und vergeuden, was in den Trümmern 1945 angefangen hat: die Leistungen der deutschen Aufbaugeneration.
Prof. Dr. Wilhelm Hankel war von 1957 bis 1967 Chefökonom der 1948 gegründeten Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die die Erlöse aus dem Marshallplan-Programm verwaltet. Er begann 1952 bei der Bank deutscher Länder, dem Vorläufer der Deutschen Bundesbank, diente im Bundesministerium für Entwicklung und im Auswärtigen Amt.
Ab 1967 war Hankel als Ministerialdirektor unter SPD-Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller einer von dessen engsten Mitarbeitern. 1971 wurde er Präsident der Hessischen Landesbank. Danach lehrte er an Universitäten in Frankfurt/Main, Berlin, Dresden, Harvard, Washington und Bologna. Geboren wurde Hankel 1929 in Langfuhr bei Danzig. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, jüngst erschien: „Die Euro-Lüge … und andere volkswirtschaftliche Märchen“ (Signum, 2007).