Herr Dr. Miliopoulos, die beiden Hauptangeklagten im Fall Potsdam sind am Freitag freigesprochen worden. Vor 14 Monaten inszenierten die Sicherheitsbehörden ihre Festnahme als Ergreifung von „Staatsfeinden“, wie etwa die „FAZ“ damals feststellte. Muß also von einem „politischen Prozeß“ gesprochen werden? Miliopoulos: Ich würde nicht in toto von einem politischen Prozeß sprechen, aber von einer unangemessenen Politisierung. Was ist unter „unangemessen“ zu verstehen? Miliopoulos: Kurz nach der Attacke auf Ermyas Mulugeta wurde von politischer und öffentlicher Seite fast ausnahmslos suggeriert, daß ein anderer als ein rassistischer Hintergrund für die Tat nicht in Frage käme. Viele von den Verantwortlichen mußten aber von Anfang an wissen, daß das so nicht haltbar war. Es ist doch erschreckend, daß sich kaum einer – abgesehen vom brandenburgischen Innenminister Jörg Schönbohm – dementsprechend verhielt. Sogar die Bundeskanzlerin schaltete sich ein, der Generalbundesanwalt ermittelte wegen Mordversuchs mit rassistischem Hintergrund, und die Verhaftung des Hauptangeklagten erfolgte auf die von Ihnen schon beschriebene Weise. Aus politikwissenschaftlicher Sicht: Kavaliersdelikt wohlmeinender Demokraten oder ein Sündenfall wider die Demokratie? Miliopoulos: Man kann das sicher nicht einfach als Panne betrachten, in der Tat handelt es sich um eine Unterhöhlung des Verfassungsstaates, wie ihn das Grundgesetz entwirft. Ich würde aber andererseits nicht so weit gehen, von einer Krise zu sprechen. Der Potsdam-Prozeß wurde am Ende nicht nach politischen, sondern nach rechtsstaatlichen Maßgaben geführt. Es handelt sich also nicht um eine „gezielte Unterwanderung“ des Staates, sondern eher um eine Art medialer Hysterie, die ein Bewußtseinsproblem in unserer Gesellschaft widerspiegelt. Deutschland eine Ochlokratie – eine Herrschaft der erregten Massen? Miliopoulos: Bei uns bestimmten eher die Medien als die Massen die öffentliche Stimmung. Aber tatsächlich muß man feststellen, daß es im öffentlichen Raum, speziell in der politischen Medienlandschaft, bei der Betrachtung des Extremismus an der gebotenen Äquidistanz und in der Einordnung des Rechtsextremismus an verfassungsrechtlicher Schärfe mangelt. Was konkret bedeutet? Miliopoulos: Nehmen Sie etwa ein undifferenziertes Schlagwort wie „Kampf gegen Rechts“. Daß dies bei uns inzwischen konsensfähig ist, zeigt an, daß wir es mit einer neuen Identitätsformel in unserer politischen Öffentlichkeit zu tun haben: einem Schema, das bislang allein das der antifaschistischen – zum Teil antideutschen – Linken war. Diese neue Identität erzeugt Öffentlichkeitsdruck, daher sehen sich in einem Fall wie dem von Potsdam die Akteure – Politiker, Sicherheitsbehörden, Journalisten und in der Öffentlichkeit stehende Bürger, wie Prominente – unterschwellig gezwungen, sich laut im Sinne dieses Identitätsschemas zu bekennen. Unabhängig, ob die Faktenlage entsprechend ist – das Bekenntnis wird einfach gesellschaftlich erwartet. Woher kommt diese neue politische Identität? Miliopoulos: Zweifellos ist eine der Ursachen dafür die lange währende nationale Selbstnegation insbesondere der deutschen Linken. Eine andere ist die unterschiedliche Legitimität, mit der linke und rechte soziale Bewegungen von unseren Medien betrachtet werden, das erzieht uns natürlich zur „schlagseitigen“ Wahrnehmung dieser Phänomene. Dürfen sich Politik und Staat wie im Fall Potsdam so widerstandslos zu einem Nachgeben gegenüber diesen Tendenzen verleiten lassen? Miliopoulos: Nein, natürlich nicht. Denn die Extremismuswahrnehmung in der medialen Öffentlichkeit hat nicht viel zu tun mit der Extremismustheorie, wie sie vom Grundgesetz geboten ist. Nämlich? Miliopoulos: Zum einen müssen wir die Verletzung des normativen Äquidistanzgebotes konstatieren: Unser Staat versteht sich als eine normative Verankerung eines demokratischen Konzeptes. Bei der „wehrhaften Demokratie“ geht es darum, daß sich unser freiheitliches Konzept gegen den Extremismus an sich wendet. Denn das Wesen des Extremismus richtet sich stets gegen die Unveräußerlichkeit personaler Würde als entscheidender Säule unserer freiheitlichen Demokratie. Der Extremismus hat dabei zwei Erscheinungsformen: Er kann ideologisch links oder rechts aufgeladen sein. Die Art der Aufladung spielt aber aus Sicht des demokratischen Verfassungsstaates keine Rolle. Entscheidend ist allein der extremistische Wesenskern, gleich in welcher Erscheinungsform. Was bedeutet es dann, wenn bei uns öffentlich gerade diese eigentlich irrelevante, inhaltliche Komponente im Vordergrund steht? Miliopoulos: Sie meinen mit „inhaltlicher Komponente“ wohl die Erscheinungsform des Extremismus. Steht diese im Vordergrund, so wird der gleiche Abstand zu allen politischen Inhalten innerhalb des nicht-extremistischen Raumes verletzt. Daher haben wir es in Deutschland nicht nur mit einer verzerrten Wahrnehmung des Rechtsextremismus, sondern auch der nicht-extremistischen rechten Inhalte zu tun. Natürlich muß man sich im klaren sein, daß eine Objektivierung sozialer Phänomene in einer Gesellschaft ohnehin nicht möglich ist. In unserer medialen Öffentlichkeit ist die Wahrnehmung der politischen Rechten aber doch sehr grobmaschig. Man kann es so zusammenfassen: Hypersensibilität gegenüber Rechtsextremismus und fehlendes Differenzierungsvermögen bei der Unterscheidung einer extremistischen und einer nicht-extremistischen Rechten. Was ist mit dem Phänomen des imaginierten Rechtsextremismus? Der mexikanischstämmige US-Wissenschaftler Gregory Rodriguez (siehe Kasten unten) begab sich im Sommer 2006 auf die Suche nach den „No-Go-Areas“ in Deutschland, die damals heiß diskutiert wurden – und fand sie nicht. Miliopoulos: Hoffentlich hat er recht. Vielleicht müßte man in der Tat noch als weitere Auswirkung der deutschen Extremismuswahrnehmung das Einbilden von rechtsextremistischen Vorfällen konstatieren. Der Fall Potsdam könnte dazu gezählt werden: sozusagen der „Sebnitz-Effekt“. Könnte man also von einem „Extremismus gegenüber Rechten“ sprechen? Miliopoulos: Das ist eine gewagte, wohl überspannte Formulierung. Unabhängig davon: Natürlich ist kein Staat in Wirklichkeit weltanschaulich neutral. Im Gegenteil, um so etwas wie Extremismus überhaupt definieren zu können, brauchen Sie ein normatives Fundament. Das Problem ist nun, was passiert, wenn sich diese konstante verfassungsnormative Mitte, von der aus wir die Extreme definieren, gesellschaftspolitisch verschiebt, und Dinge, die in der Gesellschaft gestern noch als extremistisch galten, plötzlich als nicht mehr bzw. solche, die gestern nicht als extremistisch, nun als extremistisch gelten? Davor kann nur das strikte Einhalten gewisser rechtsstaatlicher, aber auch staatspolitischer Grundsätze bewahren, zu denen etwa das Äquidistanzprinzip gehört. Wenn das wie im Fall Potsdam nicht gelingt, hat man dann nicht einen „Extremismus der Mitte“? Miliopoulos: „Extremismus der Mitte“ erscheint mir nicht nur terminologisch keine glückliche Formulierung zu sein. Statt die gesellschaftspolitische Mitte für extremistisch zu erklären, sollte man lieber versuchen, sie in die verfassungsnormative Mitte zurückzuholen. Potsdam, wo Bürger – ob nun schuldig oder nicht – zu Staatsfeinden gemacht wurden, ist doch nur die Spitze des Eisberges. Es gibt zahlreiche parallele Fälle – überregional bekannt wurde etwa der Fall des Berliner Lehrers Karl-Heinz Schmick (JF berichtete) -, wo Rechte oder Konservative nachweislich zu Unrecht als extremistisch eingestuft und drangsaliert wurden. Miliopoulos: Die Extremismus-Vokabel ist natürlich politisch instrumentalisierbar. Das wird auch gerade gegenüber Rechtskonservativen, mitunter auch gegenüber Linken, praktiziert. Wenn das in der Gesellschaft um sich greift, schlimm genug – aber der Staat in Gänze ist damit hoffentlich nicht zu identifizieren. Ein Beispiel, daß dies doch der Fall ist, ist die Stigmatisierung der Republikaner. – Inzwischen jedoch muß sie reihenweise aus den Verfassungsschutzberichten gestrichen werden. Miliopoulos: Zweifellos ist der Umgang mit den Republikanern kein Ruhmesblatt für unsere Demokratie, aber die Tatsache, daß die Partei nun gestrichen wird, weil sie vor Gericht recht bekommen hat, zeigt, daß die Mitte eben nicht extremistisch ist: Denn der Rechtsstaat funktioniert! Nachdem die Partei, nicht zuletzt dank des Extremismus-Etiketts, politisch erledigt ist. Miliopoulos: Zu beweisen wäre, daß dies von seiten des Staates tatsächlich mit diesem Zweck erfolgt ist. So lange muß davon ausgegangen werden, daß die Behörden glaubten das Richtige zu tun, dies aber vor dem Gericht keinen Bestand hatte. Ein Vorgang, wie er ständig vorkommt. Und ob die Partei wirklich wegen der Einstufung scheiterte, ist eine nähere Untersuchung wert. Schleswig-Holsteins SPD-Innenminister Ralf Stegner will zum Beispiel bereits gegen Bürger vorgehen, die sich nicht eindeutig von echten oder vermeintlichen Rechtsextremisten distanzieren. Miliopoulos: Erst wenn so etwas wirklich mit staatlichen Mitteln umgesetzt werden würde, wäre das ein staatspolitischer Skandal. Ich gehe davon aus, daß so etwas in unserem Rechtsstaat nicht haltbar ist. Denken Sie an den Vorschlag aus der Hochzeit des „Kampfes gegen Rechts“, Rechtsextremisten sollte der Führerschein verweigert werden. Daraus ist auch nie etwas geworden. Wie wirkt sich die Verletzung des Äquidistanzgebots auf der anderen Seite aus – auf der politischen Linken? Miliopoulos: Parallel zu Hypersensibilität gegenüber dem Rechtsextremismus ist eine Desensibilisierung gegenüber dem Linksextremismus festzustellen. Das zeigt sich zum Beispiel in dem Umstand, daß wir Rechtsextremismus zumeist schon als Meinungsdelikt erleben – die ganz überwiegende Zahl der Fälle sind Propagandadelikte. Linksextremismus dagegen wird nur noch dann in den Medien registriert, wenn er gewalttätig ist. Eine linksextreme Äußerung wird als solche gar nicht als „Aufreger“ wahrgenommen. Zuletzt haben die überraschte Reaktion auf die Ausschreitungen in Rostock und Heiligendamm gezeigt, wie unaufmerksam wir gegenüber diesem Problem geworden sind. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Meldung vom Rückgang der linksextremen Gewalttaten anläßlich der Präsentation des Verfassungsschutzberichtes des Bundes 2006 vor wenigen Wochen. Zwar ist die linksextreme Gewalt gegenüber dem Vorjahr in der Tat etwas gesunken, aber tatsächlich hat sie sich eher auf dem hohen Niveau von 2005 eingependelt. Ich habe die wirklichkeitsgetreue Einordnung dieser Tatsache in keiner Zeitung gefunden. Dr. Lazaros Miliopoulos ist Politologe am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Politische Philosophie, Ideengeschichte und Extremismusforschung. Zuletzt veröffentlichte er zu den Themen „Die NPD als Machtfaktor im deutschen Parteiensystem“ und „Populismus von links und rechts“. Im März erschien außerdem seine Monographie „Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhältnis“ (VS Verlag). Geboren wurde er 1976 in Düsseldorf. Foto: Der Hauptangeklagte im Ermyas M.-Prozeß, Björn Liebscher, nach dem Freispruch vor dem Potsdamer Landgericht: „Hypersensibel gegenüber Rechtsextremismus, desensibilisiert gegenüber dem Linksextremismus“ weitere Interview-Partner der JF