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„Das Maß für einen Rücktritt ist voll“

„Das Maß für einen Rücktritt ist voll“

„Das Maß für einen Rücktritt ist voll“

 

„Das Maß für einen Rücktritt ist voll“

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Herr Professor Farthmann, „Hier geht die Angst um – Osteuropäer verdrängen massenhaft deutsche Arbeitnehmer“ schrieb unlängst der „Spiegel“. Kommt jetzt die Quittung für die EU-Osterweiterung? Farthmann: Zumindest für eine vorübergehende Zeit, ja. Aber tun wir nicht so, als hätten wir das nicht gewußt. Also hatten die Warner doch recht? Farthmann: Wir hätten fairerweise den Osteuropäern den Zutritt zur EU auf Dauer nicht verweigern können. Im übrigen liegen darin auch ungeheure Chancen für Frieden und Freiheit in Europa. Schön und gut, aber ist das nicht eine Moral auf Kosten der kleinen Leute? Farthmann: Der Bundeskanzler hat in den europäischen Verhandlungen ausdrücklich die Freizügigkeit polnischer Arbeitnehmer für die Dauer von sieben Jahren ausgeschlossen. Leider ist über den Weg sogenannter Dienstleistungen ein Schlupfloch gefunden worden, das aber hoffentlich bald geschlossen wird. Im übrigen wird sich das Lohnniveau in Osteuropa schnell dem unsrigen angleichen. Schließlich ist auch zu beachten, daß mit der Osterweiterung der EU natürlich auch neue Märkte für uns eröffnet werden. Hand aufs Herz: Hätten dennoch nicht zumindest die Gewerkschaften gegen die Osterweiterung Widerstand leisten müssen? Farthmann: Die Gewerkschaften haben sich seit ihrer Gründung immer dem Ideal der internationalen Solidarität verpflichtet. Aber wo bleiben die eigenen Leute? Der Osterweiterung haben sie ebenso das Wort geredet wie der Einwanderung. Farthmann: Es mag sein, daß in den letzten Jahren auch Gewerkschaftsfunktionäre, ebenso wie Teile der SPD, gelegentlich den Multi-Kulti-Tagträumen der SPD aufgesessen sind. Jedermann muß aber wissen, daß Einwanderung keines unserer demographischen Probleme lösen kann. Einwanderer, die keinen Arbeitsplatz finden, schaffen ohnehin keine soziale Entlastung, sondern sind eine zusätzliche Belastung. Im übrigen werden alle Einwanderer, auch wenn sie einen Arbeitsplatz finden, irgendwann alt und können deshalb allenfalls eine temporäre Entlastung bewirken. Ich habe mich zudem stets gewundert, daß bei aller Multi-Kulti-Euphorie, der Verlust von kultureller Identität für die Menschen so wenig Beachtung gefunden hat. Gerade bei uns in NRW hat die Arbeiterbewegung von Gewerkschaften und Sozialdemokraten die Kultur der arbeitenden Bevölkerung wesentlich geprägt, und ich habe immer wieder erlebt, daß alte Bergleute geweint haben, weil sie die Straße, in der sie einmal aufgewachsen sind, nicht mehr wiedererkennen. Erst kürzlich hat Joschka Fischer bei einer Wahlkampfrede in Schleswig-Holstein mit Blick auf die Visa-Affäre die Existenz einer grünen Multi-Kulti-Ideologie schlichtweg abgestritten und als Propaganda-Unterstellung der Union bezeich net. Farthmann: Dann sagt er nicht die Wahrheit, gerade die Visa-Affäre ist der beste Beweis: In Kiew wurde das bestehende Gesetz auf kaltem Wege durch bürokratische Methoden ausgehebelt, um die grünen Multi-Kulti-Tagträume durchzusetzen. Ich glaube, das nimmt die eigene Partei auch so wahr, auch wenn es jetzt keiner zugeben will. Insgeheim bewundert man vielleicht sogar Fischer, weil er sich über „kleinliche“ Gesetze hinweggesetzt hat. Die kriminellen Konsequenzen werden dabei verdrängt. Vielleicht wollte Fischer seiner Partei auch ein wenig Befriedigung verschaffen, als Ausgleich dafür, daß sie durch die Beteiligung an der Regierungsmacht praktisch alle grünen Inhalte, von der Umweltpolitik bis zum Pazifismus, aufgegeben hat. Daß ein Mann wie Fischer jahrelang bei uns auf Platz eins der Politiker-Beliebtheitsskala rangiert, ist mir immer unverständlich gewesen und wirft ein schlechtes Licht auf unsere Gesellschaft. Trifft zu, daß nach dem traditionellen Ehrenkodex der Politik Fischer schon von sich aus hätte zurücktreten müssen? Farthmann: Nach meiner Einschätzung ist das Maß für einen Rücktritt übervoll. Also eine Verwahrlosung der Sitten unter den Grünen, die doch mit dem Anspruch angetreten sind, die politischen Sitten zu bessern? Farthmann: Es zeigt sich, daß die Grünen eine „stinknormale“ Partei geworden sind, wo der einzelne genauso um seine Vorteile kämpft wie in jeder anderen Partei auch. Empfehlen Sie Schröder auf Distanz zu Fischer zu gehen? Farthmann: Eine Entlassung von Fischer wäre das Ende der Koalition, mit verheerenden Folgen für die anstehenden Wahlen. Das gilt vor allem für NRW, wo die Landtagswahl am 22. Mai als Testwahl für die Bundestagswahl 2006 gilt. Wird denn andererseits die Visa-Affäre nicht vielleicht zur Belastung für Rot-Grün bei der Landtagswahl? Farthmann: Das vermag ich nicht vorherzusagen, da es schwierig ist, die weitere Entwicklung der Affäre einzuschätzen. Schon Konrad Adenauer wußte, daß vierzehn Tage in der Politik eine kleine Ewigkeit sein können. Und ich nehme an, Fischer wird versuchen, die Affäre nach der Methode Kohl zu lösen: Einfach aussitzen. Allerdings befürchte ich, daß die Wähler der SPD in NRW – auch wenn der Effekt in Schleswig-Holstein noch nicht durchgeschlagen hat – wesentlich allergischer auf die Visa-Affäre reagieren werden, als die Wähler der Grünen. Denn natürlich interessiert es die grün-wählenden Arzt- oder Anwaltsgattinnen nicht, wenn durch Einwanderung oder per Visa-Einschleusung am Fließband Arbeitsplätze gefährdet werden. Außer der Einwanderung bieten die Grünen Ihrer Klientel allerdings auch in anderen Bereichen der Gesellschaftspolitik doch einiges, von der Homo-Ehe bis zum Anti-Diskriminierungs-Gesetz (ADG). Farthmann: Leider ist meine Partei dem nicht so entgegengetreten, wie ich es gerne gesehen hätte. Ich halte sowohl die Homo-Ehe, als auch das ADG im Grunde für verfassungswidrig. Mit dem ADG verlieren die Bürger zum Beispiel einen wichtigen gesellschaftlichen Freiraum, nämlich die Vertragsfreiheit. Natürlich hat diese Freiheit auch Ungerechtigkeiten produziert, wie das bei Freiheiten immer der Fall ist – das ist eben ihr Preis. In seiner letzten Parteitagsrede 1988 in Münster hat Willy Brandt darauf hingewiesen, daß von einem bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstadium ab, Freiheit und Gleichheit in Konflikt geraten. Er hat dabei der SPD nachdrücklich empfohlen künftig im Zweifel der Freiheit gegenüber der Gleichheit den höheren Rang zu geben. Alle haben damals geklatscht, vermutlich ohne sich zu vergegenwärtigen, was Brandt da eigentlich gesagt hat. Schröder und Müntefering sind also schlechte Sachwalter des Erbes von Willy Brandt? Farthmann: Ich betrachte jedenfalls den Entwurf des ADG nicht als einen Ausdruck von mehr Freiheitlichkeit und kann deshalb die SPD nur warnen, in diesem Punkt den Grünen zu sehr nachzugeben. Die Grünen betrachten sich selbst als Partei der Bürgerrechte. Farthmann: So sieht sich jede Partei selbst gerne, aber hier gilt die alte biblische Weisheit: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Die Vorhaben der Grünen zielen vielfach auf eine Bevormundung der Bürger. Würden die Grünen wahrmachen, wofür sie in der Vergangenheit gestanden haben, wären wir auf dem Weg in die „Ökodiktatur“. So gesehen ist es ein Glück, daß den Grünen der Machterhalt heute lieber ist, als die Treue zu ihren Inhalten. Warum aber läßt sich die große SPD in den genannten gesellschaftspolitischen Punkten, Einwanderung, ADG, Homo-Ehe, von den kleinen Grünen am Nasenring führen? Farthmann: Das liegt wohl an dem seltsamen Umstand, daß – im Gegensatz zur Mitgliederschaft und noch mehr zur Wählerschaft – viele in der Funktionärsebene der SPD längst nicht mehr in klassischen sozialdemokratischen Kategorien denken, sondern „grün“ angehaucht sind, ja sogar die Grünen für die „besseren“ Sozis halten. Das halte ich allerdings für verhängnisvoll, da dem kleinen Mann, dem die SPD verpflichtet ist, die postmaterialistische, bildungsbürgerliche Grünen-Ideologie gänzlich fremd ist. Wie kommt es, daß die Grünen ideologisch so tief in die Sozialdemokratie eindringen konnten? Farthmann: Ich vermute, daß das mit dem Komplex zusammenhängt, den die SPD seit ihrer Gründung mit sich herumgeschleppt hat, nämlich zu kompromißbereit und nicht konsequent genug gewesen zu sein: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Das war häufig der Ruf von Demonstranten, der die Partei immer wieder geschockt hat. Zur Zeit des Kommunismus gab es deshalb auch immer wieder sogenannte Linksabweichler. Das ist vorbei, seitdem der Kommunismus weltweit gescheitert ist. Trotzdem fällt es auch heute noch vielen Sozialdemokraten offenbar schwer, zu glauben, daß im Sinne von Karl Popper der freiheitliche Rechtsstaat das Optimum der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Deshalb die Anfälligkeiten für die neue Heilslehre der Grünen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck, bezichtigt den Papst, wegen dessen in seinem eben erschienenen Buch „Erinnerung und Identität“ formulierter Ablehnung der Homo-Ehe als Frucht einer „Ideologie des Bösen“, der Volksverhetzung. Farthmann: Das zeigt, wie empfindlich unsere Gesellschaft reagiert, wenn ihr ihre Sünden vorgehalten werden. Christen müssen aber noch das Recht haben, als Sünde zu bezeichnen, was Sünde ist! Und nach biblischem Verständnis kann kein Zweifel daran bestehen, daß jeder außereheliche Geschlechtsverkehr, also immer der gleichgeschlechtliche, Sünde ist. Das gilt natürlich auch dann, wenn nur wenige Menschen oder vielleicht sogar niemand dazu in der Lage ist, sein ganzes Leben lang diesen Maßstäben gerecht zu werden. Ist es wirklich der klassische Reflex auf die Sünde oder reagiert man so empfindlich, weil der Papst es gewagt hat, die Political Correctness zu verletzen? Farthmann: Mag sein, aber die Political Correctness kann nicht der Maßstab sein. Wer der Kirche das Recht abspricht, die Sünde als Sünde zu bezeichnen, spricht ihr im Grunde das Recht auf ihre Existenz ab. Der Glaube stellt naturgemäß ein – privates -Absolutum dar, die Political Correctness ebenfalls – allerdings mit öffentlichem Anspruch. Muß der Christ also nicht zwangsläufig in Konflikt mit der PC geraten oder aufhören seinen Glauben als Absolutum zu verstehen? Farthmann: Das mag sein, aber im Gegensatz zur biblischen Botschaft hat die PC keinerlei echte Bedeutung, sondern ist eine Sache, die sich Journalisten und Politiker ausgedacht haben. Gleichwohl kann ihr eine politische Bedeutung nicht abgesprochen werden. Farthmann: Der schlimmste Auswuchs bislang war die Abservierung des designierten EU-Kommissars Rocco Buttiglione, der nichts weiter getan hatte, als – noch nicht einmal politisch, sondern rein privat – zu bekennen, was biblische Wahrheit ist. Das muß im christlichen Abendland doch wohl noch möglich sein! Buttiglione betrachtet sich nach eigenem Bekunden als Opfer einen gefährlichen Ideologie der Unfreiheit. Farthmann: Da hat er leider völlig recht. Beck wirft dem Papst außerdem Relativierung des Holocausts vor, weil er in seinem Buch schreibt, mit dem Ende des Nationalsozialismus habe die Vernichtung der Juden geendet, „was jedoch fortdauert, ist die legale Vernichtung ungeborener menschlicher Wesen“. Farthmann: Der Holocaust ist in der gesamten Menschheitsgeschichte ein absolut singuläres Verbrechen. Deshalb ist jedes „in Vergleich setzen“ des Holocausts mit anderen auch schrecklichen Ereignissen grundsätzlich verfehlt. Ich habe zwar weder den Papst, noch unlängst Kardinal Meisner so verstanden, daß sie den Holocaust mit der Abtreibung in Vergleich setzen wollen, trotzdem zeigt die empfindliche Reaktion weiter Kreise, wie gefährlich ein solcher Vergleich ist. Deshalb muß ich an die Adresse der Katholischen Kirche sagen: Es ist kontraproduktiv im Kampf gegen die Abtreibung immer wieder den Holocaust, Hitler oder den Nationalsozialismus zu erwähnen, denn in dem Moment, in dem das getan wird, spricht kein Mensch mehr über die Abtreibung, sondern nur noch über die Frage, ob hier der Holocaust relativiert worden ist. Wer also von der Abtreibung reden will, sollte vom Holocaust lieber schweigen. Prof. Dr. Friedhelm Farthmann war bis 1995 Vorsitzender der SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Der Sozialdemokrat vertrat seine Partei ab 1971 im Bundestag, wechselte 1975 als Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales nach Düsseldorf, 1985 dann als Frak-tionschef in den Landtag. Der Jurist wurde 1930 in Bad Oeynhausen geboren und war zunächst beim Deutschen Gewerkschaftsbund tätig. 1996 erschien sein Buch „Blick voraus im Zorn. Aufruf zu einem radikalen Neubeginn der SPD“ (Econ-Verlag) weitere Interview-Partner der JF

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