Herr Bacque, 1989 sorgte Ihr – wie etwa der „Spiegel“ es nannte – „aufsehenerregendes“ Buch „Der geplante Tod“ nicht nur in Kanada, sondern auch in Deutschland für große Aufmerksamkeit. Sie beschäftigen sich darin mit der Behandlung der Deutschen durch die Westalliierten nach der Kapitulation 1945. Am 6. Juni jährt sich nun zum 60. Mal die Landung der Alliierten in der Normandie, der „Beginn der Befreiung Europas“, wie es offiziell heißt. Bacque: Dieser Tag erfüllt mich mit Trauer und Bedauern, aber auch mit Stolz, denn tatsächlich begann mit dem 6. Juni 1944 die Befreiung Westeuropas. Auch die Befreiung Deutschlands, wie die meisten Medien dieser Tage konstatieren? Bacque: Viele Deutsche mögen sich von Hitler und vom Krieg befreit gefühlt haben, aber militärisch wurde Deutschland nicht befreit, sondern besetzt. Also ist die Interpretation als „Befreiung“ unhistorisch? Bacque: Soweit ich das beurteilen kann, ja. Weder betrachtete sich die Mehrheit der Deutschen damals als „befreit“, noch betrachteten sich die Alliierten als „Befreier“. Nach dem 8. Mai 1945 war nahezu jeder wehrfähige junge deutsche Mann entweder tot oder wurde von den Alliierten interniert. Kann man Gefangenschaft Befreiung nennen? Noch deutlicher wird die Fragwürdigkeit von der These der „Befreiung“ Deutschlands, wenn man bedenkt, daß Amerikaner, Franzosen, Sowjets und in geringerem Maße auch die Briten eine Hungerkatastrophe ausgelöst haben, der Millionen Deutsche zum Opfer fielen. Millionen? Bacque: Millionen. Die offizielle Geschichtswissenschaft ist sich im unklaren über die Zahl der Toten, hält aber Ihre Angaben für bei weitem zu hochgegriffen. Bacque: Kein Historiker hat jemals angezweifelt, daß über 1,5 Millionen Deutsche nach 1945 in alliierter Kriegsgefangenschaft umgekommen sind. Die Diskussion drehte sich lediglich darum, wer ihren Tod verursacht hatte. Die „Hofhistoriker“ beider Seiten schoben sich während der Jahrzehnte des Kalten Krieges gegenseitig die Schuld zu. Nach dem Studium der Akten in Ost und West komme ich zum Schluß, daß es im Westen etwa eine Million toter deutscher Kriegsgefangener und – es mag Sie überraschen – im Osten eine halbe Million gegeben hat. Dieselben Quellen, auch westalliierte sowie deutsche, zeigen, daß zwischen 1945 und 1950 weit mehr Deutsche umgekommen sind als im damaligen europäischen Mittel von zwölf pro tausend Personen. Tatsächlich geht diese erhöhte Sterbezahl in die Millionen. Diese Tatsache ist niemals offiziell festgestellt worden. Deshalb habe ich heute die Hofhistoriker am Hals. Dabei sollten sie sich lieber einmal den Akten widmen. Für gewöhnlich wird das Massensterben in Deutschland mit dem Unvermögen der Alliierten erklärt, zum Beispiel die vielen deutschen Soldaten in den sogenannten Rheinwiesenlagern adäquat zu versorgen. Welche Beweise haben Sie für die These, es handle sich um gezielte Maßnahmen? Bacque: Es gab damals nicht nur die berüchtigten Rheinwiesenlager – ganz Deutschland glich einem Gefangenenlager. Meine Recherchen haben ergeben, daß Lebensmitteldepots damals – auf Anweisung – nicht für die Gefangenen geöffnet wurden. Überlebende berichteten zudem, daß vor allem der Durst wütete – dabei war zum Beispiel bei den Rheinwiesenlagern der Rhein nur 200 Meter entfernt! Überdies wurden vorhandene Zeltdepots der Wehrmacht wie der US-Armee nicht freigegeben. Selbst Verwundete und Kranke lagen unter freiem Himmel im Schlamm – Regen, Kälte und Wind schutzlos ausgesetzt. Teilweise wurde den Gefangenen sogar verboten, sich selbst „Unterkünfte“, etwa Erdlöcher, zu graben. Weiterhin gab es keine medizinische Versorgung, und die Regeln der Genfer Konvention wurden mit Füßen getreten. Das waren eher Vernichtungs- als Kriegsgefangenenlager. Nach Ihren Erkenntnissen geschah all dies auf Initiative des Oberkommandierenden der US-Streitkräfte General Dwight D. Eisenhower. Warum? Bacque: Aus primitivem Haß auf die Deutschen, so wie ihn bekanntlich auch Präsident Roosevelt gehegt hat. Erschreckend ist aber nicht nur das planvolle Vorgehen der Alliierten und das Ausmaß des Sterbens, sondern daß es darüber hinaus zu regelrechten Bestialitäten gegenüber Gefangenen kam. Berichte sprechen von Folterungen, die alles in den Schatten stellen, was wir derzeit aus dem US-Gefängnis Abu Gharib in Bagdad kennen. Etwa Zusammenschlagen mit Eisenstangen, Knochenbrechen, Quetschen der Hoden, Scheinhinrichtungen, Strangulation bis zur Ohnmacht, Unterkühlung in Isolationszellen, Einschließen in Hitzekammern bei 80 Grad Celsius. Bacque: Ich kann nur Vorfälle bestätigen wie willkürliches Hineinschießen in das Lager durch die Wachmannschaften, willkürliches Verprügeln von Gefangenen mit Knüppeln mit schwersten Verletzungen als Folge oder das Überrollen schlafender Gefangener des Nachts mit Planierraupen, wobei diese entweder zerquetscht oder in ihren Erdlöchern lebendig begraben wurden. Und all das, ohne daß die Schuldigen belangt wurden. Als 1989 Ihr Buch in Deutschland erschien, wurde es schlagartig zum Bestseller. Die Fachwelt blieb aber reserviert. Bacque: Ganz erstaunlich war die Leserbriefflut, Tausende Deutsche schrieben: „Ja, so war es!“ Zuvor gab es mal ein Buch von Paul Carell und Günter Bödecker dazu, „Die Gefangenen“, es erlangte aber nie die Relevanz meines Buches. Allerdings, in der Tat, so groß der Erfolg beim Publikum war, so groß waren die Vorbehalte, ja die Ablehnung, auf die das Buch bei vielen Journalisten, der Bundesregierung und beinahe der gesamten deutschen Fachwelt stieß. Warum? Bacque: Ich vermute zwei Gründe. Der erste ist ein psychologischer: Menschen mögen es nicht, schlechte Nachrichten über sich zu hören. Die Niederlage und die unmittelbare Nachkriegszeit war eine Zeit der Demütigung für Deutschland – kein Augenblick der Geschichte des Vaterlandes, mit dem man sich identifizieren möchte. Da geht man auf Distanz. Der zweite Grund ist, daß man ab den 1950er Jahren begann, die Westalliierten als die Schutzmacht vor dem Kommunismus zu sehen, und demzufolge alles „Häßliche“ ausblendete – ja, sie sogar als „Befreier“ und „Bringer der Demokratie“ zu idealisieren begann. In der Vorstellungswelt vieler Deutscher waren Briten bald nur noch nobel und Amerikaner gutmütig, alle mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Was betrachten Sie als Ursache für diesen Wandel? Bacque: Eine erfolgreiche Umerziehung der jüngeren Generation. Sie sprechen von der sogenannten „Reeduca-tion“? Bacque: Ja, ein System aus Propagandalügen: Der Besiegte übernimmt die Geschichtsschreibung des Siegers. Ich konnte bei meinen Besuchen in Deutschland immer wieder feststellen, daß beinahe durch jede Familie hier ein Riß ging. Ein Riß zwischen der Erlebnisgeneration und den Nachgeborenen. Inwiefern? Bacque: Die älteren Deutschen erinnerten sich noch daran, was sie tatsächlich erlebt hatten. Aber wenn sie es den Jüngeren erzählten, dann forderten diese sie auf, zu schweigen. Ich habe bei einer Lesung in Kanada 1989 erlebt, wie eine etwa dreißigjährige Deutsche nach der Veranstaltung auf mich zukam und mich weinend umarmte, weil ich – wie sie sagte – „ihr Leben verändert“ hätte. Warum? Weil meine Buch ihr gezeigt habe, daß ihr Vater doch die Wahrheit erzählt hatte. Das Traurige an der Geschichte ist nur, daß der Vater inzwischen gestorben war. Er hat also zu Lebzeiten nie erfahren, daß seine Tochter sich doch noch innerlich mit ihm versöhnt hat. Solche Dinge sind mir immer wieder passiert und ich glaube, hunderttausendfach in Deutschland. Schließlich setzte sich dieses Beschweigen der historischen Wahrheit der Erlebnisgeneration in Deutschland auch in der Öffentlichkeit durch. Zeitungen und Buchverlage, die noch ein historische statt einer moralischen Sicht der Dinge pflegten, wurden zunehmend als „rechtsextrem“ diffamiert. Ein Problem der „Political Correctness“? Bacque: Oh ja, auf jeden Fall. Wenn es eine Frage der „Political Correctness“ ist, dann geht es auch um politische Interessen. Bacque: Ja sicher, denken Sie nur an Willy Brandt, in dessen Zuständigkeitsbereich als Außenminister der Großen Koalition Ende der sechziger Jahre die Buchreihe über die deutschen Kriegsgefangenen fiel. Als man dabei auf die Alliierten desavouierende Details stieß, sorgte er für die Einstellung der Veröffentlichung, um nicht „alte Wunden aufzureißen“, wie er einmal sagte. Und heute? Bacque: Bei Willy Brandt ebenso wie bei Konrad Adenauer hatte die PC noch einen rationalen Zweck, sie wurde als notwendig in der ideologischen Abwehr der Sowjetunion erachtet. Heute scheint die politische Korrektheit Bestandteil eines höchst seltsamen, irrationalen Phänomens zu sein. Eines nationalen Selbsthasses der Deutschen, wie er kaum anderswo in der Welt zu beobachten ist. Dabei habe ich die Vermutung, daß es sich nicht um einen wirklichen Haß auf das Land handelt, sondern daß dahinter der Haß auf die Elterngeneration steckt. Auch ein Produkt der „Reeducation“? Bacque: Nein, ich halte das für ein rein deutsches Phänomen. Dieser Selbsthaß entstand erst Jahre nach dem Krieg, und die Mehrheit der Briten, Franzosen und Amerikaner heute kann ihn nicht nachvollziehen. Dieser Haß wird in den deutschen Medien, den Schulen, den Universitäten und in manchen Politikerbüros ausgebrütet. Ich glaube, es handelt sich dabei um einen Fall von sogenannter „schwarzer Pädagogik“, wie das in der Fachsprache heißt. Also um Erziehung mit Repression und Gewalt: Wer nicht spurt, bekommt Schläge, bis er Wohlverhalten „gelernt“ hat. Da man eine Gesellschaft nicht mit dem Rohrstock disziplinieren kann, überzieht man sich mit einer Political Correctness, um sie zu züchtigen. Wer dagegen verstößt, wird als abschreckendes Beispiel für alle empfindlich bestraft: Öffentlich wird ein Exempel statuiert. Bedenken Sie, daß es in Deutschland möglich ist, für schwere Verstöße gegen die PC – also für rein politische Vergehen, für eine Form der freien Meinungsäußerung – ins Gefängnis zu kommen! Das ist, gelinde gesagt, sehr erstaunlich für eine freiheitliche Demokratie. Manche fürchten eine „Relativierung der deutschen Schuld“ am Holocaust, wenn man die Deutschen aus der PC entläßt. Bacque: Das ist in der Tat wohl die Befürchtung, die aber kaum etwas Gutes bewirkt, sondern nur zum Verschweigen anderer Verbrechen führt. Die Political Correctness führt letztlich nicht zu mehr Solidarität mit den Nazi-Opfern, sondern zu einer Komplizenschaft mit den Tätern von Verbrechen, die nicht ins Nazi-Täter-Schema passen. Wie waren die Reaktionen auf Ihr Buch in Amerika? Bacque: Ich hatte sehr zu leiden, alte Freunden mieden mich plötzlich, in meinem Sportclub wechselten einige Leute plötzlich kein Wort mehr mit mir. Viele hielten mein Buch für unpatriotisch. Trifft Sie dieser Vorwurf? Bacque: Natürlich! Ich glaube aber nicht, daß ich ein schlechter Patriot bin. Vielmehr glaube ich, daß diejenigen, die diese Verbrechen an deutschen Kriegsgefangenen und Zivilisten damals begangen haben und diejenigen, die diese Dinge heute verschweigen wollen, unpatriotisch sind. Weil diese Leute die Werte, für die die Alliierten gekämpft haben, verraten haben. Welche Werte meinen Sie? Bacque: Freiheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit – der Kampf der Demokratie gegen die Tyrannei. Natürlich weiß ich, daß das die Dinge sind, die man unseren jungen Soldaten damals in „Sonntagsreden“ erzählt hat, und daß die tatsächlichen Kriegsgründe realpolitischer Natur waren – etwa die geopolitische Lage Großbritanniens zu sichern. Es ging natürlich nicht um Gerechtigkeit, sondern um Macht. Der britische Historiker A. J. P. Taylor hat einmal gesagt, die Geschichte des 20. Jahrhunderts lasse sich in einem Satz zusammenfassen. Und dieser Satz ist eine Frage. Diese Frage wurde 1914 gestellt: „Wer wird Europa beherrschen?“ Aber das war nicht das, was die jungen Amerikaner, Kanadier und Briten glaubten, als sie in der Normandie an Land gingen. So viele von ihnen fielen im Glauben an die Werte, die man ihnen zuvor eingeredet hatte. – So läuft das nun einmal im Krieg. Deshalb kann man mit Recht sagen, unsere Soldaten haben für diese Werte gekämpft. War das aber bei den Soldaten der Wehrmacht nicht ähnlich? Bacque: Aber natürlich, auch viele junge deutsche Soldaten zogen aus ganz positiven Motiven in den Kampf: Sie waren erfüllt von Verantwortungsgefühl für ihr Land, von Opferbereitschaft und Tapferkeit. Ihre Führung hatte freilich ganz andere Ziele. Für alle Seiten dieses europäischen Bürgerkrieges gilt aber, daß diejenigen, die Greueltaten verübt haben, nicht nur die Werte ihrer Gemeinschaft verraten haben, sondern damit auch ihrem eigenen Land moralisch in den Rücken gefallen sind. Denken Sie daran, was sich die Hinterbliebenen fragen, deren Männer oder Söhne etwa in der Normandie gefallen sind. Sie fragen: Wofür? Etwa dafür, daß Eisenhower später deutsche Gefangene ermorden ließ? Mein Gott! Das nenne ich Verrat auch an unseren Gefallenen. James Bacque Der kanadische Journalist provozierte 1989 mit seinem Buch „Der geplante Tod. Deutsche Gefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945 bis 1946“ (Ullstein), das der These von der „Befreiung“ Deutschlands durch die Alliierten de facto widersprach, eine zeitgeschichtliche Kontroverse. Nach seinen Erkenntnissen haben die alliierten Besatzungsmächte gezielt eine Hungerkatastrophe in Deutschland ausgelöst. Geboren 1929 in Toronto/Kanada, studierte Bacque Geschichte. Drei seiner Geschwister dienten während des Zweiten Weltkrieges in der kanadischen Luftwaffe und Marine. 1986 stieß er bei Nachforschungen für ein Buch über den führenden französischer Résistance-Kämpfer Raul Laporterie auf Berichte über das Massensterben deutscher Soldaten in alliierten Kriegsgefangenenlagern und begann zu recherchieren. In Nordamerika veröffentlichte er bei den angesehen Verlagen Random House und Time Warner Paperpacks. 2002 erschien in Deutschland sein zweites Buch „Verschwiegene Schuld. Die alliierte Besatzungspolitik in Deutschland nach 1945“ (Verlag Pour le Mérite) Foto: Alliiertes Lager für deutsche Kriegsgefangene bei Sinzig (1945): „Die These von der Befreiung ist fragwürdig“ weitere Interview-Partner der JF
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