Herr Professor Hardt, das von Ihnen und dem italienischen Philosophen Antonio Negri verfaßte Buch „Empire. Die neue Weltordnung“ hat seit seinem Erscheinen für große Aufmerksamkeit in den Feuilletons gesorgt, der „New York Times“ gilt es gar als die „erste große Theorie des 21. Jahrhunderts“. Nachdem die Politologen Paul Kennedy und Chalmers Johnson (JF 04/03) als erste einen neuen amerikanischen Imperialismus konstatiert hatten, beschreiben Sie – allerdings aus kommunistisch angehauchter Sicht – die Fortentwicklung der westlichen Welt unter der Hegemonie der USA zu einem globalen Imperium neuen Typs. Zwei Jahre nach dem 11. September 2001 haben die USA die Lücke in ihrem Netz weltweiter Militärpräsenz geschlossen und sich auch in Zentralasien mit Truppen etabliert. Handelt es sich bei diesem machtpolitischen Ausgreifen noch um eine Expansion klassischer imperialer Prägung oder schon um einen Übergang zum – nach Ihrer Auffassung – Imperium neuen Typs? Hardt: Viele der Strategen im Weißen Haus haben noch eine altmodische Form von Imperium im Sinn, die vor allem auf militärischer Vorherrschaft eines Hegemons beruht, sie wiederholen damit den europäischen Imperialismus. Kennedy und Johnson haben diese Tendenz richtig vorausgesehen, ihre Analysen sind hilfreich, aber nicht ausreichend. Denn tatsächlich erweisen sich die traditionellen Konzepte imperialer Macht als ungeeignet für das 21. Jahrhundert – wie die aktuellen Ereignisse im Irak deutlich machen. Die USA haben den gesamten Globus in Militärzonen aufgeteilt, für jede Weltgegend gibt es einen US-Oberbefehlshaber, der in der Regel mächtiger ist als die meisten Staatschefs der Region. Hardt: Der Versuch, den Globus unter US-Kontrolle zu bringen, wird scheitern. Ein Gebiet zu erobern, seine Fahne aufzupflanzen und dann eine abhängige Regierung aus Landesfürsten einzusetzen, wie die Briten das zur Zeit ihrer Kolonialherrschaft in Afrika und Asien mitunter noch recht erfolgreich getan haben, funktioniert heute nicht mehr. Es entstehen Aufstandsbewegungen, wir erleben den Widerstand der Völker in vielfältiger Form, Guerillakriege, Volksaufstände à la Intifada und Terrorismus. Heute muß Herrschaft in anderer Form ausgeübt werden. Sie beschreiben diese heraufdämmernde neue Form der Herrschaft mit dem Begriff „Empire“, den wir so übernehmen wollen, weil er nicht identisch mit dem ist, was man sich im Deutschen unter „Imperium“ vorstellt. Hardt: Die klassische Bezeichnung „Imperialismus“ greift zu kurz für die Beschreibung dessen, was wir mit Empire ausdrücken. Der Begriff beschreibt eine ökonomisch, kommunikativ und politisch vernetzte globale Ordnung, grundlegend charakterisiert durch die Abwesenheit von Grenzen. Einst stellten die Nationalstaaten den Entfaltungsraum des Kapitalismus dar, zunächst nach innen, dann als Träger des Imperialismus, nach außen, immer definiert durch ihre Grenzen. Doch beide Konzepte, Nationalstaat und klassischer Imperialismus, sind heute für den Kapitalismus nicht mehr tragfähig. Denn Grenzen spielen im Zeitalter der Globalisierung keine Rolle mehr. Ein Kapitalismus, der weiter auf die Plattform der Nationalstaaten setzt, beschränkt sein eigenes Wachstum. Ergo „springt“ der Kapitalismus auf die nächste Stufe der Entfaltung, die globale Ebene. Hardt: So könnte man sagen, und wir alle erleben das auch tagtäglich. Was wir uns aber meist nicht klarmachen, sind die Konsequenzen. Das Wachsen eines weltumspannenden, dezentralen Netzwerkes aus Trägern wirtschaftlicher, kultureller, kommunikativer und politischer Macht. Das Empire konstituiert sich aus einer Reihe nationaler und supranationaler Organisationen, die vereinigt sind unter einer Logik der Herrschaft. Sie betonen die institutionellen Amorphie des „Empire“ als Netzwerk ohne feste Grenze und Zentrum – Sie sprechen zum Beispiel von einem „Imperium ohne Rom“. Welche Rolle spielt dann noch die Supermacht USA? Hardt: Die USA haben eine privilegierte Rolle, sie stellen gleichsam einen Knoten im Netzwerk dar, man könnte sie als den Monarchen in einer Adelsrepublik bezeichnen – die Adeligen, das wären die europäischen und die kapitalistischen asiatischen Staaten. Handelt es sich nach Ihrer Sicht bei den europäischen Staaten nun um Herren oder Vasallen des „Empire“? Hardt: Die europäischen Nationen kollaborieren bei der Bildung des Empire, sie suchen ihren Platz in dessen neuer Hierarchie. Momentan erleben wir aber einen versuchten Verrat des „Monarchen“ an seinen Getreuen, er will am liebsten ohne sie – unilateral – regieren, doch dieser Versuch, während der Entstehung des Empire zum alten Imperialismus zurückzukehren, wird scheitern. Doch der tatsächliche Antagonismus lautet nicht, wie meist formuliert, Unilaterlismus contra Multilateralimus, sondern quasi Multilaterlismus contra Demokratie. Denn der Unilateralismus ist heutzutage chancenlos, und der Multilateralismus ist Teil der Empire-Genese. Genauso informell wie die Gestalt des „Empire“ ist dessen Herrschaftsausübung, die Sie mit dem Begriff „Biopower“ definieren. Hardt: Biopower berücksichtigt, daß Menschen sich nicht aufgrund eines einzigen sozialen Parameters definieren, etwa Ökonomie, Politik oder Kultur, sondern anhand eines Verbundes dieser und anderer Größen. Herrschaft kann also dann am effektivsten ausgeübt werden, wenn man in der Lage ist, alle diese Größen zu beeinflussen. Es geht nicht mehr darum, einzelne gesellschaftliche Sparten zu beherrschen, sondern das Leben der Menschen an sich. Biopower bedeutet folgerichtig, dieses soziale Umfeld gleich selbst zu erschaffen, das soziale Leben, zum Beispiel mit Hilfe der Massenmedien, selbst zu kreieren. Die perfekte Form der Herrschaft besteht also darin, Gesellschaft zu generieren, oder, wie das US-Militär es ausdrückt, eine „full-spectrum-dominance“ zu erreichen. Die Idee stammt aus der Überlegung des Militärs, daß es nicht genügt, ein Land militärisch zu besetzen. Wenn man das Gebiet endgültig sichern will, muß man die sozialen Verhältnisse vollständig infiltrieren, im Idealfall substituieren. Es geht also nicht nur um Kontrolle über die Körper, sondern auch über das Denken, Fühlen und Hoffen der Menschen? Hardt: Ja , aber das funktioniert natürlich nicht so einfach. Man kann manipulieren, nicht aber neu programmieren. Denn man kann den Menschen nicht neue Wünsche und Hoffnungen eingeben, man kann sie aber anhand ihrer für Menschen typischen Wünsche und Hoffnungen manipulieren. Die Verinnerlichung der Herrschaft durch das Volk ist natürlich der heimliche Wunschtraum einer jeden Regierung. Doch es gibt immer auch Widerstand, und den müssen wir organisieren. Dies geschieht in Gestalt der „Multitude“, der pluralen, basisdemokratischen „Vielheit“ verschiedenster sozialer Bewegungen, die Sie dem Netzwerk des „Empire“ entgegensetzen. Hardt: Die Multitude besteht aus den unterschiedlichsten Gruppen, die in ständigem Dialog und Kooperation miteinander stehen. Multitude definiert sich – ähnlich wie Empire – nicht in erster Linie klassisch durch seine Mitglieder, sondern durch die Form der Organisation. Dennoch: Wer zum Beispiel vernetzt sich heute bereits gemäß dieser Organisationsform neuen Typs? Hardt: Ich denke an die Proteste in Seattle, Genua und Porto Alegre in Brasilien anläßlich des letzten Weltsozialforums, vor allem aber an den Protest vom 15. Februar 2003. Letzterer zeigte erstmals die Möglichkeit einer globalen Koordination, denn Menschen in der ganzen Welt haben an diesem Tag quasi gemeinsam gegen den drohenden Krieg im Irak demonstriert. Das hat bewiesen, daß dezentrale, globale Netzwerke effektiv funktionieren können. Allerdings darf man die Multitude nicht mit den 400.000 Menschen gleichsetzen, die protestierend von einem Gipfel zum anderen ziehen. Vielmehr umfaßt sie die Gesamtheit der sich demokratisch vernetzenden sozialen Bewegungen, wie zum Beispiel Umweltgruppen, Gewerkschaften, Kommunisten, Anarchisten, Kirchengruppen, Menschenrechtsgruppen etc. Dabei behält jedoch jede Gruppe ihre Identität, und dennoch treten sie für eine gemeinsame Alternative ein. Handelt sich bei der Multitude im Grunde nicht auch um eine Form der Globalisierung? Hardt: Zumeist wird die Globalisierung eindimensional präsentiert, entweder ist man dafür oder dagegen. Vernünftiger aber ist es doch, auf andere Möglichkeiten der Globalisierung hinzuweisen, etwa Freiheit, Gleichheit und Demokratie, es geht darum, das Richtige zu globalisieren. Verstehen Sie die „Multitude“ als eine Art „neues Proletariat“? Hardt: Wenn man unter dem klassischen Proletariat all jene versteht, die unter den Bedingungen des Kapitalismus produzieren mußten, in der Tat. Wenn man eine solch extensive Definition von Proletariat hat, läßt sich hier eine Analogie zur Multitude herstellen. Wenn Sie mit Proletariat aber streng die Industriearbeiter meinen, dann sicherlich nicht. Denn es geht heute nicht um ein bestimmtes Milieu, sondern darum, betroffen zu sein. Die Multitude ist ein integratives Konzept, das sich, wie gesagt, durch eine spezifische Form der Organisation konstituiert – ebenso wie das Empire, das ebenfalls mehr ein Vorgang der Formierung ist denn ein endgültiger Zustand. Als Karl Marx erstmals den Kapitalismus beschrieb, beschränkte sich dieser noch auf ein kleines Segment der Wirtschaft im Europa der damaligen Zeit. Was Marx mit Kapitalismus beschrieb, war eine Tendenz, ein Prozeß, der sich in einer bestimmten Form des Wirtschaftens manifestierte, kein absoluter Zustand. Gleichwohl sagte er mit dieser Analyse die Zukunft voraus. Analog ist unsere Analyse des Empire zu verstehen, als Beschreibung eines Prozesses, der etwas über die Zukunft aussagt. Was ist der Unterschied zwischen „Multitude“ und Masse? Hardt: Beide sind plural, das heißt heterogen, dennoch unterscheiden sie sich grundlegend: Masse ist passiv, sie kann Mob werden, sprich sie ist manipulierbar. Denn die Masse hat keinen eigenen Willen, sie braucht einen Führer. Die Multitude dagegen besteht aus aktiven Einheiten, ihre Vernetzung ist demokratisch, ihre Kommunikation ist demokratisch, ihre jeweilige Gruppenstruktur ist demokratisch. Die Multitude beherrscht sich selbst und kann demzufolge nicht manipuliert werden. Wenn das „Empire“ ohne Machtzentrum repressiv sein kann, dann kann dies auch die „Multitude“. Das Argument, sie brauche keinen Führer und sei daher der Garant der Demokratie, überzeugt also nicht. Hardt: Natürlich gibt es keine Garantie für Demokratie, auch die Multitude kann prinzipiell entarten. Allerdings müssen Sie bedenken, daß sich heutzutage die Bedingungen für Widerstand geändert haben. In der Zeit repressiver autokratischer Systeme war Widerstand nur in Gestalt von Verschwörung möglich. Verschwörung ist aber naturgemäß eine Sache von wenigen. Multitude dagegen ist Widerstand unter Beteiligung vieler, ja immer mehr. Somit ist für diese Form von Widerstand Demokratie völlig selbstverständlich und nicht etwas, das nach revolutionärem Kampf erst erlernt werden muß. Die Multitude kann im Prinzip gar nicht anders als demokratisch funktionieren, da sie sonst, aufgrund ihrer pluralen Struktur auseinderbrechen würde. Tatsächlich sind diese Gruppen aber doch eher einheitlich als vielgestaltig. Was Sie als Vielfalt darstellen, ist doch in Wirklichkeit nichts weiter als immer wieder dieselbe aufgeklärt-westlichen Lebens- und Denkweise in unterschiedlicher Ausgestaltung. Sich wirklich unterscheidende Gruppen mit tribalistischer, traditionaler oder fundamental religiöser Ausrichtung lehnen Sie doch zumindest als „altmodisch“ ab. Hardt: Nein, deshalb hatte ich zuvor betont, daß die Multitude keinesfalls mit den 400.000 Demonstranten von Seattle, Genua und Porto Alegre gleichzusetzen ist. Es ist irrig, in ihnen die Avantgarde zu sehen, die heute schon so ist, wie künftig alle sein werden. Die Multitude basiert auf der Unterschiedlichkeit ihrer Bestandteile. Multitude bedeutet nicht „gleichzuwerden“, sondern zusammenzuarbeiten – und wenn doch eine Angleichung erfolgt, dann nicht des einen an den anderen, sondern von allen Seiten im gleichen Maße. Wie gehen Sie mit Völkern und Kulturkreisen um, die wenig an Demokratie, dafür um so mehr an irrationalen Werten wie Religion und Volkstum interessiert sind? Hardt: Es trifft zu, daß viele Menschen unseren Konzepten nicht zustimmen würden, doch kann ich daraus doch nur den Schluß ziehen, um so engagierter für sie zu werben. Manche Leute sagen, Demokratie könne man außerhalb des Westens nicht verbreiten, ohne die Menschen dort vorher nicht verwestlicht zu haben. Das halte ich nicht für zutreffend, das halte ich für ein reaktionäres Konzept, potentiell imperialistisch. Ist es für Sie nachvollziehbar, daß nicht-westliche Völker dieses Werben der „Multitude“ für Demokratie als Teil des aggressiven westlichen „Empire“ empfinden? Hardt: Ich verstehe Ihre Sorge, die demokratische Idee der Multitude könnte etwas Missionarisches annehmen und sich verselbständigen, doch da Multitude Dialog bedeutet, ist ein solcher imperialer Effekt im Prinzip ausgeschlossen. Im übrigen glaube ich nicht, daß wir so alleine sind, auch außerhalb des Westens wünschen sich viele Menschen mehr Demokratie, dafür sorgt schon das Maß an Armut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung dort. Und nochmal: Ich glaube nicht an die Lehre, Demokratie sei eine rein europäische Erfindung. Was aber tun mit Völkern und Kulturkreisen, die ihre demokratischen Wurzeln noch nicht ausreichend schnell entdecken? Hardt: Als Mao den Kommunismus für China adaptiert hat, hat er nicht einfach eine deutsche Philosophie an chinesische Verhältnisse angepaßt. Er hat die chinesischen Wurzeln dessen freigelegt, was Marx in Europa aufgegriffen und entwickelt hat. Entsprechend muß es auch mit der Demokratie geschehen. Auch der Terrorismus wendet sich gegen die Ausbreitung des weltweiten „Empire“-Netzwerkes. Gehört er damit, wenn auch nicht konzeptionell, so doch strukturell zur „Multitude“? Hardt: Der Angriff auf Unbeteiligte stellt die Attentäter unbedingt außerhalb der Multitude! Das ist eine moralische, keine analytische Argumentation. Hardt: Merkmal der Multitude ist ihre Dezentralität. Der Terrorismus dagegen funktioniert noch nach altmodischer Kommandostruktur, hier das zentrale Hirn, etwa Osama bin Laden, dort die Terrorzellen, die stumpf die Befehle ausführen. Der Terrorismus wiederholt die Muster der Macht, die er bekämpft. Immerhin teilten die Attentäter vom 11. September mit der Wahl des Welthandelszentrums als Hauptziel offenbar zumindest partiell Ihre „Empire“-Analyse. Statt eine Institution der Nation wie etwa das Capitol anzugreifen, wählte man das Symbol der weltweiten Finanzwirtschaft. Hardt: Im Gegenteil, der Angriff auf das Welthandelszentrum zeigt, daß auch die Attentäter noch in veralteten Kategorien von Symbolen als Attributen der Zentralmacht denken. Das globale Netzwerk hat keine Zentren mehr. Wer das nicht begreift, versteht nicht, wo die Reise hingeht. Das Empire hat keine Ikonographie mehr, es gibt kein Winterpalais mehr, das es zu stürmen gilt. Es bleibt unklar, wie Ihre Theorie das Phänomen des Terrorismus deutet. Hardt: Unter Terrorismus verstehen wir heute dreierlei: Erstens, illegitime Aktionen gegen eine legitime Regierung. Zweitens, die Verletzung von Menschenrechten durch eine Regierung. Drittens, das Führen von Kriegen unter Verletzung des Völker- und Kriegsrechts. So beschuldigt etwa Noah Chomsky die USA, selbst eine terroristische Macht zu sein, da sie Menschenrechte verletzt, Maßnahmen gegen legitime Regierungen durchführt und das Völkerrecht bricht. Ich stimme Chomsky zwar zu, doch hilft uns diese Diskussion nicht weiter. Ihr einziges Resultat ist, daß sich Chomsky und Rumsfeld gegenseitig der Unterstützung des Terrorismus bezichtigen. Sie haben eingangs den Nationalstaat als ehemalige Plattform des Kapitalismus skizziert, dessen Grenzen ihn allerdings heute behindern. Wenn sich die Bedeutung des Nationalstaates für den Kapitalismus aber derart gewandelt hat, warum dann Ihre bleibende – dogmatisch anmutende – Ablehnung des Nationalstaatsprinzips? Hardt: Aus der Gleichung, das Empire ist dem globalen Kapital, was der Nationalstaat dem nationalen Kapital war, läßt sich keineswegs ableiten, daß sich Nation und Empire im Widerspruch befinden, vielmehr wandelt sich die Funktion der Nationalstaaten. Zum Beispiel lernen sie, ihre nationalen Interesse an den Interessen der Empire-Netzstruktur auszurichten. Die USA werden nach dem Scheitern ihres unilateralen Abenteuers im Irak genau dies wieder lernen müssen. Der bekannte Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler wies im Interview mit dieser Zeitung (JF 33/02) eindringlich auf die eminent wichtige demokratische, soziale und globalisierungshemmende Funktion der Nationalstaaten hin. Hardt: Es gibt auf der Linken natürlich auch die Position, nationale Autoritäten im Namen der Demokratie zu erhalten. Das klingt zunächst vernünftig, vernachlässigt aber, daß in den Nationalstaaten selbst bereits ein entscheidendes Demokratiedefizit besteht. Unsere westlichen politischen Systeme stellen keine wirkliche Repräsentation des Volks her. Auch wenn die nationalstaatlichen „Demokratien“ des Westens einige wundervolle Elemente beinhalten, so kann wirkliche Demokratie nur global sein. Ist das Volk nicht die „Multitude“ des Nationalstaates? Hardt: Das Konzept vom Volk in der neuzeitlichen europäischen Philosophie besagt, daß das Volk eine Einheit darstellt. Deshalb kann, so etwa Thomas Hobbes, ein Volk souverän sein, im Gegenteil zur Vielheit einer heterogenen, pluralen Bevölkerung. Die Multitude aber ist eine solche Vielheit, Volk und Multitude sind also ihrem Charakter nach völlig unterschiedlich. Die amerikanischen Konservativen, etwa um Pat Buchanan … Hardt: … sind nicht wirklich an Demokratie interessiert! Sie sprechen den Konservativen die Demokratie pauschal ab, reklamieren sie allein für Ihr globales Konzept, das klingt ausgesprochen apodiktisch. Hardt: Ich sage nicht, daß globale Demokratie automatisch funktioniert, ich sage nur, daß es ein notwendiges politisches Unterfangen ist, es zu versuchen. Geschichtlich gesehen ist die Demokratie die Regierungsform überschaubarer Einheiten, etwa der antiken Polis. Die Ausdehnung zu „globalen“ Mächten, wie das Alexanderreich oder Rom, brachten stets ihr Ende. Ist „globale Demokratie“ nicht ein Widerspruch in sich? Hardt: Dieser Einwand mag zunächst berechtigt erscheinen, doch haben wir es im 17. Jahrhundert mit einer radikalen Transformation der Demokratie zu tun. Die Griechen haben die Demokratie als „Herrschaft der Vielen“ definiert, im Gegensatz zur Monarchie, der „Herrschaft des Einen“, und der Aristokratie, der „Herrschaft der Wenigen“ (wörtlich der „Besten“). Sie haben recht, das griechische Konzept ist ein begrenztes Konzept. Im neuzeitlichen Europa jedoch wurde Demokratie von der „Herrschaft der Vielen“ zur „Herrschaft aller“ umkonzipiert, Demokratie wurde absolut. Auch damals gab es viele Bedenkenträger, die warnten, Frankreich sei nicht Athen, die Demokratie könne nicht auf nationalen Maßstab übertragen werden. Heute haben wir es mit den gleichen Bedenkenträgern zu tun. Es ist aber heute gerade unsere Aufgabe, Konzepte zu entwickeln, um die Demokratie auf globale Ebene heben zu können. Zuvor haben Sie noch argumentiert, der Wechsel auf die globale Ebene sei nötig, weil die Demokratie auf nationalstaatlicher Ebene nicht richtig funktioniere. Jetzt ist die Einrichtung nationalstaatlicher Demokratie plötzlich Vorbild? Hardt: Die Demokratie ist nach wie vor das unerfüllte Versprechen der neuzeitlichen Nationalstaaten, und es ist an uns, dieses Versprechen einzulösen und Wege zu finden, Demokratie endlich zu verwirklichen. Ob es uns tatsächlich gelingt? – Aber folgen wir nicht denen, die a priori sagen, es sei unmöglich. Selbst wenn Sie dem Nationalstaat eine Funktion innerhalb des „Empire“ zuordnen, so sind seine antiglobalen Momente nicht zu bestreiten, müssen Sie ihm also nicht zumindest einen Zwittercharakter bescheinigen und ihn auch auch als Teil des „Multitude“-Widerstandes akzeptieren? Hardt: Nein, wir müssen eine andere Alternative finden als die Rückkehr zum Nationalstaat, dessen Mangel an Demokratie Gefahren birgt, zum Beispiel des Rückfalls in den Imperialismus, wie ihn die Neokonservativen in den USA derzeit betreiben. Neokonservative sprechen gerne von einer weltweiten „demokratischen Revolution“, ganz anders als Konservative wie Pat Buchanan, aber ganz ähnlich wie etwa Sie selbst, der Sie sich einen „rapiden Wechsel (wünschen), den man als Revolution bezeichnen kann“. Hardt: Was die Neokonservativen unter Revolution verstehen, entspricht der Art von „Revolution“, die das Zeitalter des Absolutismus gegenüber dem Mittelalter gebracht hat. Daß sich die isolationistischen Konservativen und imperialistischen Neokonservativen in den Haaren liegen, zeigt, daß diese Gruppen eben nicht homogen sind. Seit dem 11. September haben die Neokonservativen eine Lizenz zur Ausführung der Pläne, die sie zuvor schon in den Schubladen hatten. Ich bin überzeugt, viele der Diplomaten alter Schule im Weißen Haus und im State Department, die noch in der Epoche der Idee von Multilateralismus und Koexistenz gelernt haben, schämen sich für die Politik der Neokonservativen. Die USA sind eben ein komplexes Gebilde voller innerer Widersprüche. Verhängnisvoll ist nur, daß der 11. September den Kräften des Ausgleichs, der Gerechtigkeit und der Verständigung quasi den Mund gestopft hat. Wir sollten diese Veränderung jedoch nicht als endgültig betrachten, es hängt von uns ab, ob nicht einmal auch wieder die derzeit Verstummten zu Worte kommen. Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2002, 461 Seiten, gebunden, 34.90 Euro (Studienausgabe 19.90 Euro) „Empire ist die theoretische Stimme der Globalisierungsgegner“ (FR), „Pflichtlektüre der Linken“ (NZZ), „Empire hebt die Globalisierungsdiskussion auf eine neue Stufe“ (FAZ), „Die erste große Theorie des 21. Jahrhunderts“ (NYT), „Empire ist vieles, linke Theorie der Globalisierung, Analyse der Macht, Schrei nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und es ist Kult“ (Telepolis), „Alter (marxistischer) Wein, in neuen Schläuchen“ (JUNGE FREIHEIT) Prof. Dr. Michael Hardt , geboren 1960 in Washington D.C., studierte zunächst Ingenieurswesen, dann Literatur. Seit 1993 lehrt er an der Duke Universität von Durham, Nord-Carolina, Literaturwissenschaft. 2000 veröffentlichten Negri und Hardt unter dem Titel „Empire“ ihre Analyse und Theorie zur Globalisierung. Schnell avancierte das Buch zur „Bibel der Globalisierungskritiker“ und erregte international großes Aufsehen, weil es den Prozeß der Globalisierung mittels der Aufspaltung in ein repressives „Empire“, dem die revolutionäre „Multitude“ gegenübersteht, auf populäre Weise systematisierte. Negri saß in Zusammenhang mit dem Terror der Roten Brigaden in Haft, heute lebt er in Rom. weitere Interview-Partner der JF
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