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„Hinter verschlossenen Türen“

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Frau Stenzel, der bayerische Europaminister Eberhard Sinner äußerte im „Münchner Merkur“, es falle ihm schwer, den Bürgern zu erklären, „daß eine Verfassungsänderung in Bayern nur mit ihrer Zustimmung möglich ist, sie aber keinen Einfluß auf eine europäische Verfassung haben“. Diese Frage stellt sich auch für die übrigen EU-Europäer. Können Sie uns eine Antwort geben? Stenzel: Die Menschen sind durch die von ihnen gewählten nationalen Parlamente beteiligt, schließlich haben wir repräsentative Demokratien in Europa. Ihr Kollege, der Europaabgeordnete Othmar Karas, hat vorgeschlagen, ein EU-weites Referendum über die Verfassung abzuhalten. Stenzel: Ich halte das nicht für durchführbar, denn in manchen Staaten gibt es die Möglichkeit zum Referendum, in anderen nicht. Ließe sich da nicht angesichts des besonderen Anlasses eine Möglichkeit finden? Stenzel: Bitte bedenken Sie auch, daß solche Abstimmungen leider nur zu oft für politische Zwecke mißbraucht werden. Was fürchten Sie? Stenzel: Daß die Leute erst gar nicht hingehen, oder daß vor allem die Gegner einer europäischen Verfassung zur Abstimmung kommen würden. Am Ende erreicht man mit solch einem Versuch der Beteiligung der Bürger zur Stärkung Europas das Gegenteil dessen, was man eigentlich bezweckt hat. Sie wollen also nur dann etwas zur Volksabstimmung vorlegen, wenn Sie sich des „richtigen“ Ergebnisses sicher sein können? Stenzel: Nein, jetzt überspitzen Sie! Natürlich kann man den Bürgern so etwas vorlegen – ich weise nur darauf hin, welche Probleme damit verbunden sind. Es ist Konsens unter den meisten Politik- und Staatswissenschaftlern, daß es in der EU ein Demokratiedefizit gibt, schließlich ist die Legitimation über die nationalen Parlamente und Regierungen nur eine indirekte. Stenzel: Was tatsächlich in der EU fehlt, ist demokratische Transparenz – die Institutionen tagen hinter verschlossenen Türen, die Bürger fühlen sich von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen. Da könnte der Verfassungsvertrag Abhilfe schaffen, weil er die Gremien zumindest teilweise öffentlich machen würde. Das paßt den Regierungen natürlich nicht, weil sie sich zuweilen ganz gerne hinter Brüssel verstecken. Sie wissen, wie das läuft: Ist eine Politik erfolgreich, war es Wien, Berlin, London oder Paris. Ist sie nicht erfolgreich, war es Brüssel. „Ich halte den Begriff ‚Verfassung‘ für irreführend“ Weist das Ausarbeiten einer Verfassung darauf hin, daß ein Zentral- oder Bundesstaat entstehen soll? Stenzel: Ich halte den Begriff „Verfassung“ für irreführend, vielmehr handelt es sich um einen Verfassungsvertrag. Was ist der Unterschied? Stenzel: Es geht nicht um die Neuschaffung Europas aus einer Verfassung heraus, sondern um einen Vertrag, den jedes Mitgliedsland gesondert mit der EU abschließt. Aber wo soll denn die Reise hingehen, denn fest steht natürlich, daß die Verfassung nach der Lehre des Institutionalismus dazu dient, den Prozeß der Integration voranzutreiben. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer zum Beispiel strebt den europäischen Bundesstaat an. Stenzel: Den Bundesstaat sehe ich nicht kommen. Sicher, Österreich steht dem Gedanken der Finalität eines Bundesstaates auch nahe, aber ich glaube, das Projekt wurde eigentlich schon begraben. Inwiefern? Stenzel: Es ist doch offensichtlich, daß das weder die Engländer noch die Franzosen mitmachen werden, und da eine solche Transformation der Einstimmigkeit bedarf, kann sie auf alle Zeiten blockiert werden. Ich sehe eher die Verewigung des Prozeßhaften. Was ist in fünfzig oder hundert Jahren? Stenzel: Wer weiß, vielleicht sind wir dann soweit. Derzeit aber stehen auch die zehn neuen Mitgliedsstaaten, die im April 2004 beitreten werden, der Finalität Bundesstaat entgegen, denn die wollen bekanntlich nicht – nachdem sie vor wenigen Jahren erst Moskau in die nationale Unabhängigkeit entkommen sind – erneut unter ein „Moskau“, sprich Brüssel, geraten. Aber in fünfzig oder hundert Jahren wäre der europäische Superstaat denkbar? Stenzel: Wer weiß, ich glaube nicht. Ich würde es übrigens auch nicht für richtig halten. Das heißt, Deutschland und Joschka Fischer müssen umdenken? Stenzel: Was heißt umdenken? Ich glaube, Fischer denkt vor, aber er denkt so weit voraus, daß es sich nur um Theorie handelt. Im Gegensatz zu Ihnen ist Fischer auch ein begeisterter Verfechter eines raschen Beitritts der Türkei zur EU. Auf seiner vom Europäischen Konvent in Neapel auf den Bundesparteitag der Grünen in Dresden übertragenen Rede ermahnte er die Delegierten eindringlich, der Türkei dürfe „die europäische Tür nicht vor der Nase zugehauen werden“. Stenzel: Von einem unfreundlichen „vor der Nase Zuhauen“ kann keine Rede sein. Ich bin wirklich ein großer Bewunderer dieses Landes! Die Türken haben die wirtschaftlichen Probleme der letzten Jahre gemeistert, politische Fortschritte gemacht, und ihr Land ist ein wichtiger Vorposten des Westens in einer geopolitisch mehr als heiklen Region. Aber? Stenzel: Dennoch sehe ich gewisse Standards in puncto Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie noch nicht erfüllt. Ebenso wie in puncto Ökonomie, denken Sie etwa an die extrem hohe Staatsverschuldung, an die türkische Inflationsrate um 20 Prozent, an ihr erhebliches regionales West-Ost-Gefälle, an die 35 Prozent ländlicher Bevölkerung und an das Pro-Kopf-Einkommen von nur 23 Prozent im Vergleich zum EU-Durchschnitt. Und das alles angesichts der Tatsache, daß die Türkei dank ihrer Geburtenziffern in ein paar Jahren das bevölkerungsreichste Land der EU wäre. Ich glaube nicht, daß die Union einen Beitritt der Türkei verkraften kann. Die EU als Solidargemeinschaft mit Umverteilungsmechanismen, die ab dem 1. Mai zehn neuen Mitgliedern zugute kommen sollen, wäre damit völlig überfordert. Es sei denn, wir verabschieden uns eben von diesem Prinzip der Solidargemeinschaft und entwickeln uns zurück zur reinen Freihandelszone. Denn irgendwem muß man etwas wegnehmen. Eine Struktur- und Agrarpolitik wie bisher können wir uns dann nicht mehr leisten. Sie haben im „Standard“, einer der beiden wichtigsten österreichischen Tageszeitungen, gefordert, „endlich eine öffentliche und offene Diskussion über das Für und Wider des Türkei-Beitritts“ zu führen. Stenzel: Ja, denn zum Beispiel all das sind Überlegungen, die wir bis heute nicht offen und vernünftig diskutiert haben. Das hat alles hinter verschlossenen Türen stattgefunden. Warum sollte diese Frage nicht öffentlich diskutiert werden? Stenzel: Ich vermute, daß man unter anderem Angst davor hatte, die türkische Minderheit vor allem in Deutschland zu provozieren und zu Aktionen auf den Straßen zu reizen. Vielleicht fürchtete man zudem auch die Reaktionen der übrigen Bürger, obwohl die sich vielleicht schon mit dem Türkei-Beitritt abgefunden haben. Also wurde erneut die europäische Einigung auf undemokratischem Wege über die Köpfe der Bürger hinweg betrieben? Stenzel: Undemokratisch würde ich das nicht nennen, schließlich ist der Vorgang an sich nicht geheim. Die Bürger kennen ja die Situation. Der Trick ist nicht, irgend etwas zu verheimlichen, sondern daß die Dinge stets so dargestellt werden, als könne man gegen den eingeschlagenen Weg nichts mehr unternehmen – so wurde die offene Debatte verhindert. Wer will denn den Türkei-Beitritt und warum? Stenzel: Die Staats- und Regierungschefs haben immer einstimmig für die Türkei votiert, weil sich keiner Schwierigkeiten aufhalsen möchte. Der Europäische Rat versteckt sich hinter der Kommission und die Kommission hinter dem Rat, das Europäische Parlament ist gespalten. Großbritannien ist der verlängerte Arm der USA und daher einer der vehementesten Befürworter des Türkei-Beitritts. Die USA wollen ihren wichtigen strategischen Partner Türkei natürlich protegieren – und zudem der EU etwas Sand ins Getriebe streuen, denn schließlich sieht Washington die Union nicht nur als Partner, sondern auch als Konkurrenten. Die Briten wollen allerdings nicht nur den USA einen Gefallen tun, ihnen ist der europäische Einigungsprozeß an sich suspekt, und da ist eine überstürzte Erweiterung der Union das beste Mittel, um sie in die Krise zu treiben. Auch den Spaniern oder den Polen hat die EU zu viele Kompetenzen, da ist jedes Mittel zur Schwächung recht. Italien interessiert sich vor allem für mehr Freihandel, Integration ist zweitrangig. Es sind also nationale Interessen, die diese Länder veranlassen, den Türkei-Beitritt zu betreiben. Gibt es denn niemanden, der den Beitritt aus „europäisch-idealistischen“ Gründen will, wie das zum Beispiel in Deutschland offiziell vermittelt wird? Stenzel: Nein, und gerade aus europäischem Interesse ist es falsch! Also werden wir Mitteleuropäer mittels einer Euro-Sentimentalität idealistisch eingewickelt, während andere Staaten in der EU knallhart ihre nationalen Interessen verfolgen? Stenzel: Ich fürchte, ja. Und natürlich verfolgt auch die Türkei als Regionalmacht eigene Interessen. Das stellt die Frage, wie es bei einem EU-Beitritt um die außenpolitische Selbstbestimmung der Union bestellt sein wird. Wollen wir wirklich in die spezifischen Konflikte der Türkei hineingezogen werden? Importieren wir damit nicht vielleicht sogar Unsicherheit aus dem Vorderen Orient nach Europa – bitte vergessen Sie nicht, daß die EU dann eine gemeinsame Grenze mit Syrien und dem Irak hätte. Zudem bilden die, trotz allem Laizismus, konservativ-islamischen Verhältnisse in der Türkei – kombiniert mit Armut – einen Humus für islamischen Radikalismus. Und neben den Folgen für die innere Sicherheit sollten wir dabei auch die gesellschaftlichen Folgen bedenken, ich er-innere zum Beispiel an das Problem des Kopftuchstreites. Allerdings müssen wir der Türkei auch weiterhin eine privilegierte Partnerschaft mit der EU anbieten. Wir müssen klarmachen, daß sie auch ohne einen Beitritt für uns ein herausragend wichtiger Partner ist und daß sie eine sehr wichtige Aufgabe im Nahen Osten zu erfüllen hat. Aber eine besondere Nähe zur EU genießt die Türkei doch jetzt schon. Stenzel: Die EU hat in der Vergangenheit den Fehler gemacht, daß sie ein besonderes Verhältnis zur Türkei immer unter die Prämisse eines künftigen Beitritts zur Union gestellt hat. Dieses Verhältnis wurde deshalb „Vorbeitrittshilfen“, „Heranführungshilfen“ oder „Beitrittspartnerschaft“ genannt – damit wurde aber immer suggeriert, das privilegierte Verhältnis zur Union sei in Wirklichkeit eine Benachteiligung, weil die Türkei noch kein richtiges Mitglied ist. Dadurch ist das Gefühl dafür verlorengegangen, daß es sich eigentlich um eine privilegiertes Verhältnis handelt. Wenn wir das künftig klarmachen, kann die Türkei damit leben, ohne sich zurückgestoßen zu fühlen. Damit wollen Sie sagen, die Türkei gehört einfach nicht zum christlichen Abendland? Stenzel: Nein, ich definiere die EU nicht als christliches Abendland. Sind Sie dazu als Mitglied einer christlichen Volkspartei nicht moralisch verpflichtet? Stenzel: Es gibt in Europa auch ein christliches Erbe, das ist richtig. Aber es gibt auch andere Wurzeln und Elemente, eine europäische Kultur wie Antike oder Aufklärung. Die EU-Wertegemeinschaft – Vielfalt in der Einheit – läßt sich nicht auf ein Kulturkampf-Argument reduzieren. Ich lasse mich daher nicht in die reaktionäre „abendländische Ecke“ stellen. Wenn ich gegen den Beitritt der Türkei bin, dann nicht aus christlich-kulturellen, sondern aus wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Gründen. Tritt nicht eine Initiative innerhalb der Europäischen Volkspartei für einen christlichen Gottesbezug in der EU-Verfassung ein? Stenzel: Ob nun Gott in der Präambel der EU-Verfassung erwähnt wird oder nicht, liegt leider nicht an mir zu entscheiden. Sollte die Türkei also eines Tages alle Kriterien erfüllen, die Sie einfordern, steht dem Beitritt nichts mehr im Wege? Stenzel: Das halte ich für eine hypothetische Frage. Inwiefern? Stenzel: Sagen wir es so, wir brauchen Europa, nicht Eurasien. Unabhängig von dem, was Sie wünschen: Kommt der Türkei-Beitritt, oder kommt er nicht? Stenzel: Das hängt von unserer zukünftigen Politik ab: Wenn man den Türken den Beitritt weiterhin verspricht, kann man ihn ihnen nicht ewig vorenthalten. Ursula Stenzel gehört zu den prominentesten Kritikern eines EU-Beitritts der Türkei im Euro- päischen Parlament. Die 1945 in Wien geborene Radio- und Fernsehjournalistin war die erste politische Moderatorin des ORF. Seit 1996 ist die ÖVP-Politikerin, Mitglied des Bundesvorstandes der Partei, Abgeordnete des Europäischen Parlaments in der Fraktion der Europäischen Volkspartei und Europäischer Demokraten (EVP-ED). Sie ist Mitglied des Fraktionsvorstandes und Sprecherin für EU-Erweiterungsfragen. weitere Interview-Partner der JF

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