Wer glaubt, das Scheitern der Migrations- und Integrationspolitik müßte selbst Hartgesottene unter ihren Vertretern zum Umdenken bewegen, wird sich getäuscht sehen. Ein grundsätzliches Umdenken findet nicht statt. Dafür gibt es zwei Gründe. Daß eine Politik zu unerwünschten Ergebnissen geführt hat, läßt sich stets unterschiedlich erklären. Man kann entweder die Erreichbarkeit der angestrebten Ziele in Zweifel ziehen oder über geeignetere Mittel ihrer Realisierung nachdenken.
Im Falle der Protagonisten der gegenwärtigen Migrations- und Integrationspolitik haben wir es mit Ideologen zu tun – mit Leuten, die nicht bereit sind, die ihren Erklärungen zugrundeliegenden theoretischen Grundannahmen in Frage zu stellen, und erst recht nicht auf die Idee kommen, über die Sinnhaftigkeit und Legitimität ihrer politischen Zielvorstellungen nachzudenken.
Offen zur Schau gestellte Verachtung des deutschen Staates
Sofern sie überhaupt bereit sind, Probleme einzuräumen, die aus der Einwanderung der letzten Jahrzehnte sowie einer weitgehend unkontrollierten Migration resultieren, bevorzugen sie – dies ist der erste Grund – eine ganz bestimmte Sorte von Erklärungen. Blickt man auf das Migrationsgeschehen, stellt man sich üblicherweise vor, daß diejenigen, die um Aufnahme in einem anderen Land bitten, das dort geltende Recht achten, die Lebensweise und Kultur der Einheimischen respektieren, die Landessprache erlernen, die landesüblichen Gepflogenheiten und Anstandsregeln jedenfalls nicht ostentativ mißachten und sich darum bemühen, selbst geachtete Mitglieder der Gesellschaft zu werden.
Bei einem nicht zu vernachlässigenden Teil der Migranten beobachtet der „Normalbürger“ jedoch ganz andere Verhaltensweisen: offen zur Schau gestellte Verachtung des deutschen Staates, kaltschnäuzige Verweigerung jeglicher Integrationsanstrengungen, offensives Ausnutzen des Sozialstaates, aggressives Auftreten in der Öffentlichkeit bis hin zu schwerstkriminellen Handlungen mit typischen Tatbegehungen.
Dies freilich sind nur die drastischsten und sichtbarsten Formen einer mißlungenen Integration. Die bevorzugten Erklärungen selbst für derartige Verhaltensweisen lassen jedoch ein Muster erkennen, das charakteristisch dafür ist, wie man generell auf Probleme mit Migranten zu reagieren sich angewöhnt hat: Sie werden vorzugsweise auf Defizite zurückgeführt, die der deutsche Staat und die Gesellschaft der Bio-Deutschen selbst zu verantworten haben
Deutschland ist in die Falle getappt
Wenn jemand seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, ohne in der Lage zu sein, sich umgangssprachlich in Deutsch zu verständigen, erklärt man uns, daß die vom Staat angebotenen Unterstützungsmaßnahmen unzureichend waren. Wenn gerade aus der Haft entlassene Straftäter erneut straffällig werden, meint man, daß die Betreuung in den Strafanstalten ungenügend war und die erneute Delinquenz dadurch nicht verhindert wurde.
Wenn einem Asylanten oder einem Ausreisepflichtigen nichts Besseres einfällt, als eine Dealer-Karriere zu starten, zeigt man dafür Verständnis, weil ihm der deutsche Staat keine Arbeitserlaubnis erteilt hat. Generell attestiert man der Gesellschaft ein Versagen darin, den Neuankömmlingen, egal ob legal oder illegal eingereist, nicht den nötigen Respekt entgegengebracht und das Gefühl vermittelt zu haben, dazuzugehören.
Um nun nicht mißverstanden zu werden: Auch Erklärungen, die die Ursachen für entstandene Probleme in Unterlassungen des aufnehmenden Staates oder einem Fehlverhalten seiner Bevölkerung suchen, sind logisch zulässig und können sinnvoll sein. Sucht man Erklärungen jedoch vornehmlich oder nahezu ausschließlich in dieser Richtung, verfällt man allzu häufig auf Problemlösungen, die die in sie gesetzten Erwartungen nur enttäuschen können. Daß Deutschland, dank der geistigen Hegemonie einer linken, kulturmarxistisch geprägten Meinungselite, längst in diese Falle getappt ist, wird man kaum bestreiten wollen.
Sozialpädagogische Maßnahmen, die nicht fruchten
Die Folgen, in dieser Art an die Probleme heranzugehen, sind verheerend: Statt umzusteuern, schreitet man in der falschen Richtung forsch voran. Man bewilligt noch mehr Gelder, aktiviert noch mehr Sozialarbeiter und übt noch mehr Nachsicht. Man befragt noch mehr Experten, die gerade jener Denkrichtung anhängen, unter deren Einfluß man in die drängenden Problemlagen geschlittert ist.
Man gründet eine weitere Arbeitsgruppe, die in ihrer, nie eingestandenen, Hilflosigkeit die bekannten und sich längst als untauglich erwiesenen Vorschläge unterbreitet. Man befindet sich auf einem abschüssigen Pfad, den zu verlassen immer schwerer wird.
Auf einem solchen Pfad dauert es nicht lange und die Dinge entwickeln sich in einer Weise zum Unguten, wie man es anfangs nicht für möglich hielt. Wenn es schließlich noch offensichtlicher wird, daß alle Integrationsbemühungen, alle sozialpädagogischen Maßnahmen bei einem nicht zu vernachlässigenden Teil der Migrantenschaft partout nicht fruchten wollen, wird man – und dies ist der zweite Grund – zuerst die Notwendigkeit von Integration und zu guter Letzt die Legitimität von Integrationserwartungen in Zweifel ziehen.
Eine Übergangsphase
Man wird uns sagen, daß es in multikulturellen Gesellschaften durchaus mehrere Amtssprachen geben kann, daß Parallelgesellschaften eine Bereicherung sind (was im Falle von zivilisatorisch leistungsfähigen Minderheiten tatsächlich sein kann), daß auch Nicht-Christen den gleichen Anspruch haben, staatliche Feiertage zu definieren – ja, daß nicht nur für Zugewanderte Anlaß besteht, sich zu integrieren, sondern ebenso für die „schon länger hier Lebenden“.
Sobald man der allgemeinen Erfahrung, daß Integration massenhaft verweigert wird, nicht mehr wirkungsvoll widersprechen kann, werden die linken und „woken“ Protagonisten dieser Politik die bereits auf den Weg gebrachte Gesellschaftsumgestaltung weiter vorantreiben und die Forderung, sich in die autochthone deutsche Gesellschaft und Kultur zu integrieren, unter Rechtsextremismusverdacht stellen.
Wer in der Konsequenz seines Denkens offene Grenzen fordert und damit die fortschreitende Auflösung einst ethnisch und kulturell weitgehend homogener Gemeinschaften in Kauf nimmt, kann der Integrationsidee ohnehin nichts abgewinnen. Wir leben derzeit in einer Übergangsphase, in der die Forderung nach Integration in die deutsche Gesellschaft und Kultur noch Sinn macht – obwohl von manchen schon heute bestritten wird, daß es überhaupt eine deutsche Kultur gibt, in die man sich integrieren könnte.
Integration als die bloße Einhaltung von Gesetzen
Und in der Tat, es gehört wenig Phantasie dazu, um vorauszusagen: Mit dem Anwachsen des migrantischen Bevölkerungsanteils wird die Forderung, sich in jenes Gemeinwesen zu integrieren, das von der deutschen Abstammungsgemeinschaft in einem Jahrtausend geschaffen wurde, auf immer weniger Gehör stoßen.
Spätestens in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird das Territorium des heutigen Deutschlands zu einem derart großen Anteil von Menschen nicht-deutscher Abstammung bewohnt werden, daß der Begriff der Überfremdung kein Anwendungsfeld mehr hat. Sich in eine Gemeinschaft einzufügen, die gerade ihre Identität verliert, wird man nicht mehr für geboten halten.
Im Ergebnis wird sich die Forderung nach Integration auf die bloße Einhaltung der deutschen Gesetze reduzieren – aber selbst diese Achtung dem deutschen Recht zu zollen werden viele der aus fremden Kulturen Eingewanderten nicht auf allen Rechtsgebieten bereit sein.
Skepsis wird diffamiert
Schließlich wird man darauf verweisen, daß alle Menschen gleich und alle Kulturen gleich wertvoll sind, und man wird diese interpretationsbedürftigen Formeln mit eigenen, vermutlich unscharfen und unsinnigen, Inhalten füllen – und man wird deren bloße Infragestellung diskreditieren und Skeptiker diffamieren. Man wird darauf insistieren, daß sämtliche Fragen des Zusammenlebens zwischen der migrantischen und einheimischen, „nicht-migrantischen“, Bevölkerung gleichberechtigt auszuhandeln sind.
Man wird bestreiten, daß es das Recht eines jeden Staates ist, über Art und Umfang der Einwanderung selbst zu entscheiden. Man wird den verbreiteten Wunsch, eine kulturfremde Einwanderung möglichst zu unterbinden, weil man lieber unter seinesgleichen leben möchte und obendrein Konflikte fürchtet, kriminalisieren und moralisch desavouieren.
Statt dessen wird man illegale Einwanderung legalisieren und es darauf anlegen, die in Deutschland lebende Bevölkerung möglichst zu durchmischen und in jeder Hinsicht „bunter“ zu machen. Dies vorauszusagen ist im strengen Sinne keine Prognose, denn alle diese Entwicklungen zeichnen sich bereits ab.
Abstammungsland wird zu Aufnahmeland
Damit es auch wirklich so kommt, wie von vielen gewünscht, dürfen die in Gang gesetzten Prozesse nicht beschrieben, nicht auf den Begriff gebracht und schon gar nicht kritisiert werden. Mit dieser Strategie werden ethnisch formierte Milieus und nationale Minderheiten geschaffen, und es wird das für das Funktionieren von Demokratien so wichtige Wir-Gefühl sukzessive aufgelöst.
Wir wissen heute, daß Einwanderung in einen Staat, dessen Bevölkerung eine Abstammungsgemeinschaft bildet und eine gemeinsame Sprache spricht, am besten dann funktioniert und auch zu einem Gewinn für das Aufnahmeland werden kann, wenn die Eingewanderten sich in einem gewissen Maße assimilieren – wenn also ein von ihnen im wesentlichen selbst getragener lebenspraktischer Angleichungsprozeß stattfindet, der sie, ohne deshalb sämtliche kulturellen Besonderheiten aufgeben zu müssen, in der Aufnahmegesellschaft „aufgehen“ läßt, so daß sie zwar vielleicht noch immer als Zugewanderte, aber nicht mehr als Fremde, nicht mehr als Nicht-Dazugehörige wahrgenommen werden. Neben den Anpassungsleistungen der Migranten erfordert dies Integrationsunterstützungen durch den aufnehmenden Staat – dessen Ressourcen jedoch stets beschränkt sind.
Die Elite nimmt es hin
Obwohl man dies alles weiß oder wissen könnte, ist man in Teilen der Regierung und überhaupt der politischen Klasse notfalls bereit, in anderen Teilen offenbar willens, kritische Schwellenwerte der Integrationskapazität des Landes zu überschreiten, die Dinge letztlich laufen und das Land in die ultimative Krise stolpern zu lassen. Seitdem die Regierten nach ihrer Meinung gefragt werden, ist es nicht mehr Sache der Regierenden allein, darüber zu befinden, mit wem sie zusammenzuleben haben.
Demokratische Verfassungsstaaten legitimieren sich durch die Zustimmung des Staatsvolkes – das allerdings, um sein Recht als eine Gemeinschaft wahrnehmen zu können, eine, wodurch auch immer zusammengehaltene, politisch-soziale Einheit verkörpern muß. Betrachtet man die Dinge in ihrem Zusammenhang wäre es ein Fehler, die in der politisch-medialen Klasse verbreitete Unwilligkeit, in der Migrations- und Integrationspolitik umzusteuern, auf eine Lernunfähigkeit zurückzuführen.
Diese Entwicklungen werden von der das Land beherrschenden „Elite“ gewollt oder hingenommen. Die eigentliche Lernunfähigkeit ist bei jenen Konservativen und Liberalen zu suchen, die noch immer in Illusionen verharren und nicht zur Kenntnis nehmen, auf welche Schiene das Land ganz bewußt gesetzt wurde.
—
Prof. Dr. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, ist Philosoph und Politikwissenschaftler. Von 1993 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden und lehrte als außerplanmäßiger Professor Politikwissenschaft an der TU Chemnitz.