Jürgen Habermas löst Begeisterungsstürme aus. Die Zeit verortet den Philosophen „im Maschinenraum der Vernunft“. Andere linke Blätter kürten ihn zur „philosophischen Weltmacht“ und zum „Lordsiegelbewahrer der Vernunft“. SPD-Politiker bis hin zu Olaf Scholz stimmten dem Überschwang ebenso zu wie Habermas selbst. Der 1929 in Düsseldorf geborene Denker wähnt sich in der „Rolle eines Hüters der Rationalität“. Auch New Yorker Intellektuelle wie Hannah Arendt suchten die Nähe dieses Maschinisten der Vernunft. Um so mehr verblüfft seine Unkenntnis angelsächsischer Popkultur. Als Habermas 1967 auf einer Party fragte, wer die Beatles seien, soll der entsetzte Peter Handke, ein bekennender Beatles-Fan, auf ihn eingeprügelt haben.
Eher auf Distanz blieben Frankreich und Großbritannien. Der französischen Avantgarde um Jean-Paul Sartre und Michel Foucault war Habermas nicht revolutionär genug; und die auf „reiche Mittel klarer Sprache“ (H. L. A. Hart) bedachten Briten fremdeln mit seiner nebulösen Weitschweifigkeit. In der Streitschrift „Narren, Schwindler, Unruhestifter: Linke Denker des 20. Jahrhunderts “ (2015) rechnet der konservative Philosoph und Publizist Roger Scruton mit ihm ab. Über drei Bandwurmsätze mit sechsmaliger, schwankender Verwendung des Begriffs „Zusammenhang“ lästert er: „Unentwirrbares Geschwafel, so gut wie nicht interpretierbar, Teil eines unendlichen Flusses von Einerseits-Andererseits, inspiriert von allen möglichen Artikeln und Büchern und zugemüllt mit dem Jargon der Soziologie.“
Von Heidegger zu Adorno zu Kant
Waren das frühe stilistische Prägungen durch Martin Heidegger, dessen schillernde Geistesblitze mitunter in Widersinn mündeten („Das Nichts selbst nichtet“)? Ungeachtet seiner späteren NS-Vorwürfe gegen Heidegger klang Habermas 1952 wie ein Jünger des Existenzphilosophen, als er die Philosophie aufforderte, „sich dem Geschick des Seins vernehmend aufzuschließen“. Oder war es der Einfluß Theodor W. Adornos, dessen „Minima Moralia“ auch Erratisches hervorgebracht haben („Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen“, 1951)? 1956 wurde Habermas Assistent von Adorno und Max Horkheimer am Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen neomarxistische Kritische Theorie ihn faszinierte.
Zwar führte sein damals rebellischer Impetus zum Bruch mit Horkheimer − er habilitierte sich 1961 beim radikaleren Wolfgang Abendroth −, verhinderte aber nicht seinen allmählichen Aufstieg zum neuen Vordenker Kritischer Theorie. Habermas setzte Akzente beim sogenannten Positivismusstreit in der deutschen Soziologie und folgte Horkheimer 1964 als Ordinarius für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt. Immer auffälliger wurde seine Ambivalenz. Als Philosoph entkoppelte Habermas die Kritische Theorie von ihrer fatalistischen „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno, 1944) und begab sich auf eine kreative Zeitreise von Marx über Hegel zu Immanuel Kant. In einer zweiten Rolle als linker, omnipräsenter „Political Intellectual“ kämpft er vehement gegen alles, was rechts ist.
Ergiebiger ist Habermas’ Rolle als Philosoph. Ihren Nukleus bildet die Vernunftphilosophie Kants im Sinne einer Universalpragmatik: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kategorischer Imperativ). Wie aber findet man die Inhalte dieser allgemeingültigen (universellen) Gesetze? Während Kant die erkennende Vernunft des Individuums beschwor („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“), verknüpfen aktuelle Denker diesen Ansatz mit intersubjektiven Verfahren zur Normerkenntnis. US-Philosoph John Rawls beschrieb 1971 einen fiktiven „Originalzustand“, in dem Individuen hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ über ihren künftigen Status genötigt sind, sich in die Bedürfnisse aller am Gesellschaftsvertrag beteiligten Individuen hineinzuversetzen.
Die „Theorie des kommunikativen Handelns“, ein Meilenstein moderner Philosophiegeschichte
Zeitgleich entwickelte Habermas seine Theorie des rationalen Diskurses, erweitert 1981 zu zwei opulenten Bänden „Theorie des kommunikativen Handelns“, in denen sich (gefühlt) die halbe Philosophiegeschichte spiegelt: Kant, Hegel, Marx, Adorno sowieso, erstaunlicherweise aber auch Max Weber und die Systemtheoretiker Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Selbst seinen Biographen Philipp Felsch verunsichert dieses monströse „Labyrinth der Begriffscluster, Lemmata und Kreuztabellen“. Wie konnte der mit Ludwig Wittgensteins „Tractatus Logico-Philosophicus“ und John L. Austins Sprechakttheorie vertraute Habermas das Klarheitspostulat derart vernachlässigen?
Trotzdem setzte seine Diskurstheorie fachlich Maßstäbe. Während andere Ethiken und politischen Philosophien meist an Zirkelschlüssen oder anderen Hürden des „Münchhausen-Trilemmas“ (Hans Albert) scheitern, umschifft die Diskursethik das Problem. Ihre Rationalität beansprucht keine absolute Gewißheit. Habermas billigt dem im Diskurs erzeugten Konsens nur aktuelle Plausibilität bzw. „Wahrheit“ zu. Ein solcher Konsens muß in späteren Diskursen einer anderen Übereinkunft weichen.
Die „idealen Sprechsituation“: Demokratie als Utopie
Rationale Diskurse beruhen auf einer „idealen Sprechsituation“, die den zielführenden Austausch von Argumenten (Sprechaktverbindungen) verbürgt. Habermas knüpft diese Sprechsituation an vier Voraussetzungen. Alle Diskursteilnehmer müssen a) gleichberechtigt, b) frei von Zwang und Beeinflussung sowie c) konsensorientiert sein und sich d) der Wissenschaftlichkeit verpflichtet fühlen, also logisch einwandfreie Sätze bilden. Begriffsbildungen wie „herrschaftsfreier Diskurs“ und „eigentümlich zwangloser Zwang des besseren Arguments“ runden das Konzept ab. Die Fachwelt reagierte lebhaft. Ein bahnbrechendes Werk rechtswissenschaftlicher Methodenlehre − „Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung“ (1978) – schuf Rechtsphilosoph Robert Alexy, der juristische Diskurse als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses versteht.
Davon angeregt wandte sich auch Habermas der Diskurstheorie des Rechts zu. Im Standardwerk „Faktizität und Geltung“ (1992) entwickelte er eine „deliberative“ Demokratietheorie, die sich als Fortschreibung der Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) deuten läßt. Sein Interesse gilt der Ausgestaltung demokratischer Verfahren. Das klassische Modell einer ethno-kulturell geprägten Nation als Trägerin von Souveränität verkommt dagegen zur „vorpolitisch-völkischen Konnotation“. Der Idee vom Nationalstaat setzt er eine republikanische „Staatsnation“ entgegen.
Diskurs nur bei Bedarf
Offenbar verkennt Habermas die Konvergenz beider Argumentationsstränge. Öffentlichkeit ist eine notwendige Bedingung demokratischer Debatten, aber wo gedeiht sie üppiger als im homogenen Nationalstaat, dessen Bürger eine Sprach-, Kultur- und Schicksalsgemeinschaft bilden und Einbürgerungen an strenge Integrationsvorgaben knüpfen? Bereits ein demokratischer EU-Staat ist Utopie und der von Habermas ersehnte Weltstaat mit „Weltöffentlichkeit“ und einer rationale Diskursregeln befolgenden „Weltbürgerschaft“ eine Halluzination. Als herben Rückschlag empfand der postnationale Habermas die Wiedervereinigung.
Mit seiner Demokratietheorie betrat Habermas zugleich die Schwelle vom Philosophen zum „politischen Intellektuellen“. Auf diesem Terrain hatte er sich auch im Historikerstreit von 1986 bewegt. Es ging um die These eines „kausalen Nexus“ zwischen den totalitären Ideologien des Stalinismus und Nationalsozialismus. Faschismusexperte Ernst Nolte hatte gefragt, ob Stalins international folgenloser Terror Hitlers Überlegungen zur Vernichtung der europäischen Juden beeinflußt haben könnte: „War nicht der ‘Klassenmord’ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‘Rassenmords’ der Nationalsozialisten?“
Die Schüler und Gegner des Jürgen Habermas
Zweifellos hätte sich die Frage unaufgeregt anhand der Quellenlage diskutieren lassen, zumal eine historische Einordnung der Shoa keinesfalls zu deren Verharmlosung führen muß. Dies widerstrebte aber dem Kulturkämpfer Jürgen Habermas, der Nolte heftig attackierte und die Historikerzunft auf die eher politische Formel vom „singulären Holocaust“ einschwor. Ausgerechnet ein Schöpfer der Diskurstheorie verweigerte sich der zwanglosen, herrschaftsfreien Debatte und mutierte zum gebieterischen Geschichtspolitiker.
Joschka Fischer, in den 1960er Jahren Gasthörer von Habermas’ Vorlesungen, leitete aus der Singularitätsthese einen bundesdeutschen „Gründungsmythos Auschwitz“ ab. Ihm widersprach Hans-Ulrich Wehler, Habermas’ treuer Verbündeter im Historikerstreit: „Ein vitales Gemeinwesen läßt sich nicht auf Menschheitsverbrechen aufbauen. […] Gewiß ist der Holocaust zentral im 20. Jahrhundert. Aber die Größe eines Verbrechens adelt es nicht zum Identitätsstifter.“
Nach Gastbeitrag in der „Süddeutschen Zeitung“: Enttäuschung und Trübsal
Als herben Rückschlag empfand der postnationale Habermas die Wiedervereinigung. 1990 überwarf er sich mit Karl Heinz Bohrer, der die deutsche Einheit als Chance begriff, „die neurotisierte Selbstauflösung der Deutschen als Nation“ zu beenden. In der Ex-DDR, tönte Volkspädagoge Habermas, gebe es eine „Mentalität, die wir aus der Adenauerzeit kennen“ oder sogar „der 30er und 40er Jahre“. Die Deutschen zwischen Harz und Oder geraten unter faschistoiden Generalverdacht, weil sie Habermas’ Gesellschaftsmodell verschmähen. Es ist das Modell eines antifaschistischen, multikulturellen BRD-Versuchslabors für den die Menschheit erlösenden Weltstaat.
Neuerdings soll Habermas unter dem Liebesentzug einstiger Bewunderer leiden. Ein bellizistischer Joschka Fischer, mit dem er 1999 für deutsche Streitkräfte beim Nato-Einsatz gegen Serbien geworben hatte („Nie wieder Auschwitz!“), tadelte Habermas’ Vorschläge zum Ende des Ukrainekriegs; und woke Jünger eines Israel hassenden Antikolonialismus weisen die Formel vom singulären Holocaust zurück.
Sein aktuelles Credo verkündete Habermas jüngst in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung. Er wetterte gegen Trump und Musk und forderte Friedensverhandlungen mit Putin. Einen angeblichen „Nationalismus“ und „militärischem Heroismus“ in Deutschland will er mit einer die NATO ersetzenden europäischen Verteidigungsgemeinschaft verhindern. Habermas nimmt Abschied von weltbürgerlichen Utopien und hofft auf die Abwicklung des Nationalstaats in einem EU-Superstaat.
Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, Jurist und Publizist, promovierte in Göttingen zu Gustav Radbruch und war danach für die Bergbau-Berufsgenossenschaft tätig. Im Jahr 2008 erschien seine Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“.