Die Karawane Ankara-Brüssel zieht erst mal weiter. Auch das Treffen der EU-Außenminister hat dem geplanten Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 3. Oktober keine Hindernisse in den Weg gelegt. Ende des Monats wollen die Außenminister das Mandat für die Beitrittsverhandlungen festklopfen. Mit lustlosem Fatalismus treibt die EU ihre Erweiterung nach Asien voran, während die türkische Regierung in orientalischer Logik die von CDU und CSU wieder ins Spiel gebrachte „privilegierte Partnerschaft“ als „absurd“ und „unmoralisch“ abtut. Angela Merkels und Edmund Stoibers plötzlicher Aktionismus kam einigermaßen überraschend nach dem bisherigen Herumlavieren in der Beitrittsfrage: Erst wollte die CDU-Chefin das Thema im Wahlkampf niedrig hängen, dann plädierten Hessens Ministerpräsident Roland Koch und der brandenburgische CDU-Generalsekretär Sven Petke dafür, das Nein zum EU-Beitritt groß herauszustellen; schließlich der Brandbrief in letzter Minute der beiden Parteivorsitzenden, der wohl mehr dem Wahlkampf als einer tieferen Überzeugung geschuldet ist. Für die EU-Kommission ist ohnehin alles klar: Die Türkei habe die Bedingungen für den Verhandlungsbeginn erfüllt, behauptet Erweiterungskommissar Olli Rehn und erwähnt insbesondere die – freilich vor allem auf dem Papier erfolgte – Strafgesetzreform und die Ausdehnung des türkisch-europäischen Zollabkommens auf die zehn neuen Mitgliedstaaten. An Gerhard Schröder wird es jedenfalls nicht scheitern. Unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahl werde er selbst als Bundeskanzler für Deutschland in der EU die Entscheidung in Sachen Beitrittsgespräche fällen, betont der Regierungschef auf Abruf; bis zum geplanten Verhandlungsbeginn am 3. Oktober werde die neue Bundesregierung nämlich noch nicht im Amt sein. Im übrigen, zitiert Hürriyet den deutschen Kanzler, habe die Türkei „ihre Versprechen gehalten, jetzt müssen wir unseres auch halten“. Die sachliche Grundlage dieser Nibelungentreue ist allerdings nicht so unerschütterlich, wie Schröder und die EU-Kommission glauben machen wollen. Mindestens eines der bei den Verhandlungen um den Gesprächsbeginn gegebenen Versprechen hat die Türkei nämlich bislang nicht eingelöst: Ankara weigert sich nach wie vor, das EU-Mitglied Zypern völkerrechtlich anzuerkennen. Dankbar sind einige EU-Staaten auf den französischen Versuch aufgesprungen, diesen Umstand als Vorwand für ihre Skepsis gegenüber dem unheimlichen Beitrittskandidaten aufzubauschen. Gehandelt haben sie nicht. Zunehmend erinnern EU-Zusammenkünfte an KPdSU-Parteitage: Alle klatschen Beifall, keiner wagt zu widersprechen – obwohl doch die Völker, die sie entsandt haben, in ihrer Mehrheit dagegen sind und auch etliche Regierungschefs und Außenminister selbst zunehmend von Zweifeln geplagt werden, ob sie auf dem richtigen Weg seien. Zu den wenigen Ehrlichen gehört Ex-EU-Kommissar Franz Fischler (ÖVP): Er geht davon aus, daß die Türkei „nie beitreten“ werde, weil selbst bei erfolgreichem Abschluß der Verhandlungen einige Referenden negativ ausgehen würden – in Österreich und Frankreich hat eine Volksabstimmung das letzte Wort. Er findet es „zynisch“, zehn Jahre oder länger „auf ein Ziel hin zu verhandeln, von dem man weiß, daß man es nicht erreicht“. Der EU-Beitritt sei für die Türkei „kein Muß“, trumpft Premier Recep Tayyip Erdogan jetzt auf. Warum nicht gleich so? Der Islamisten-Chef schiebt nach, was er als Drohung meint: Sollten weitere Bedingungen hinzukommen, werde die Türkei ihr Beitrittsgesuch zurückziehen, und zwar für immer. Nicht jeder in Europa empfände das wirklich als furchtbar. Daß der alleinige Nutznießer noch als Erpresser auftritt, ist an sich schon ein starkes Stück. Bleibt die Frage, wie lange die Türkei-Skeptiker unter den EU-Staaten sich noch darum drücken wollen, diesem in der Tat absurden Versteckspiel durch ein Veto ein Ende zu machen. Ob eine unionsgeführte Bundesregierung dazu den Mut hätte, ist lange nicht so klar, wie Merkel und Stoiber suggerieren. Abgesehen vom eigenen Schwanken hätte auch der Koalitionspartner ein Wort mitzureden, sei es die FDP, die derzeit zwar skeptisch ist, aber „mit dem Türkei-Beitritt keinen Wahlkampf machen“ will, sei es die SPD, die in einer großen Koalition sicherlich keine totale Kehrtwendung machen würde. Wie es auch ausgeht – von der künftigen deutschen Regierung ist kein großer Beitrag zur Verhinderung der wohl größten Fehlentscheidung in der Geschichte der EU zu erwarten. Trotzdem hofft der Wiener Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) auf eine Unionssieg: Dann werde in Europa „neuer Realismus“ einkehren, und die Beitrittsskeptiker bekämen Rückenwind. Realistischer sieht das EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD), der „auch in der Türkei-Frage keinen entschiedenen Widerstand von CDU und CSU“ erwartet, wenn sie erst einmal an der Regierung seien. Auf dem CSU-Parteitag hat Schüssel klare Prioritäten gesetzt: Es sei grotesk, mit der Türkei Verhandlungen zu beginnen und das christliche und mitteleuropäische Kroatien weiter „vor der Tür verhungern“ zu lassen. Wenn er das verhindern will, darf er nicht auf Merkel warten.