Wie bequem wäre es für die Politiker doch gewesen, wenn sie die geplante EU-Verfas-sung möglichst unbemerkt und unter Ausschluß der Öffentlichkeit hätten ratifizieren können. Das ist jetzt nicht mehr machbar, nachdem der britische Premier Tony Blair und der französische Präsident Jacques Chirac sich auf ein Referendum festgelegt haben. „Die Franzosen sind direkt betroffen“, verkündete Chirac zum 215. Jahrestag des Sturms auf die Bastille, „und werden daher direkt befragt“. Schön wäre es, so etwas auch einmal aus dem Mund eines führenden deutschen Politikers zu hören. In Sachen Demokratie können wir von anderen noch einiges lernen. Schon jetzt steht fest, daß auch Dänen, Niederländer, Belgier, Luxemburger, Franzosen und Tschechen über die Verfassung abstimmen werden. In Polen ist ein Referendum wahrscheinlich, in Österreich nicht ausgeschlossen. Bleiben nur noch die Deutschen, das isolierte 80-Millionen-Volk, dessen Eliten auf einem Sonderweg beharren. Die dazu gelieferten Begründungen sind teils abwegig, teils beleidigend. Kanzler Gerhard Schröder verstieg sich zu der Behauptung, das Grundgesetz verbiete „ausdrücklich“ eine Volksabstimmung. Daß dies keineswegs der Fall ist, möge der Sozialdemokrat bitte in einem Aufruf von 34 deutschen Verfassungsrechtlern nachlesen, der bereits 2003 vom Verein „Mehr Demokratie“ organisiert wurde. Die Unterzeichner verwiesen auf Artikel 20 des Grundgesetzes, wo von „Wahlen und Abstimmungen“ die Rede ist. Und sie ließen keinen Zweifel daran, daß es nur zwei legale und legitime Möglichkeiten gibt, eine neue Verfassung in Kraft treten zu lassen: entweder die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung durch das Volk oder aber das Referendum. Diese Vorstellung liege auch dem Grundgesetz zu Grunde – siehe die Präambel sowie die Artikel 20 und 146. Es bedürfe mithin lediglich der Konkretisierung dieses grundlegenden Verfassungsprinzips. Hinzuzufügen wäre, daß die Europäische Verfassung laut Artikel 10 eindeutig „Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten“ hat und damit das Grundgesetz überlagert. In den Führungsetagen der Parteien – mit Ausnahme der FDP und unter Vorbehalt bei CSU und Grünen – grassiert Mißtrauen und Angst vor dem Volk. Matthias Wissmann (CDU), immerhin Vorsitzender des Europa-Ausschusses im Bundestag, ließ uns wissen, ein Referendum böte einen „idealen Nährboden für eine populistische und nationalistische Debatte“. Eigentlich eine Unverschämtheit, wie er dem Souverän demokratische Unreife attestiert. Ex-CDU-Generalsekretär Peter Hintze kam der Sache schon etwas näher, als er meinte, eine Volksabstimmung würde doch nur vortäuschen, daß das Volk „eine Alternative zwischen Ja und Nein“ habe. Denn in Wirklichkeit könne die Antwort nur Ja lauten. Kann es sein, daß Deutschland nicht nur unter einem Demokratie-Defizit leidet, sondern auch unter einem Souveränitätsdefizit? Tatsächlich können Briten und Franzosen, wenn sie es denn wollten, die EU wieder verlassen. Weil das so ist, konnte London auch den „Briten-Rabatt“ in Brüssel durchsetzen. Die Deutschen hingegen können de facto nicht austreten. Sie dürfen sich nicht einmal eine andere EU wünschen und müssen weiterhin den Zahlmeister spielen. Laut einer Umfrage vom April plädieren hierzulande 74 Prozent für eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung. Würde die Mehrheit diese ablehnen? Voraussichtlich nicht. Das Odium, die Verfassung gekippt zu haben, werden wohl die Briten auf sich nehmen. Wäre das so schlimm? Nicht unbedingt. Eine Krise ist noch keine Katastrophe. Die allein aus geopolitischen Gründen unverzichtbare europäische Zusammenarbeit ließe sich auch anders als auf diesen unverdaulichen 352 Verfassungsseiten organisieren: als eine Union freier Staaten, ohne Überregulierung, ohne eine Mammut-Bürokratie, ohne Gleichschaltung, ohne wettbewerbsverzerrende Umverteilung. In einer solchen Union, die der Vitalität und Vielfalt Europas besser anstünde, würden sich dann auch die nationalbewußten Engländer, die EU-skeptischen Skandinavier und nicht zuletzt die Polen, Tschechen oder Esten wohlfühlen, die einen Horror davor haben, das einst allmächtige KP-Politbüro gegen eines der EU auszutauschen. Ganz hoffnungslos ist das Anliegen, mehr Demokratie in Deutschland durchzusetzen, nicht. Zuletzt debattierte der Bundestag am 28. Mai über das Thema Volksabstimmung. Bei SPD und Grünen bröckelt die Front der Neinsager, auch CSU-Chef Edmund Stoiber ist jetzt dafür, und der Bundestag könnte bereits im Herbst über den vorliegenden FDP-Antrag abstimmen. Der Druck auf die Inhaber der Macht wächst, sie fürchten schon jetzt einen Präzedenzfall, der es ihnen erschweren würde, die Türkei gegen den Willen der Bürger in die EU zu schleusen. Eine offene Debatte über das Europa, das wir wollen, ist längst überfällig. Daß sie bei den jüngsten Wahlen zum EU-Parlament nicht einmal ansatzweise geführt wurde, daß die Deutschen sich mit weniger demokratischen Rechten als ihre Nachbarn begnügen sollen, ist ein Skandal und eine anschwellende Peinlichkeit. Dr. Bruno Bandulet ist Herausgeber des Deutschland-Briefes und des Finanzdienstes G&M.