In den neunziger Jahren haben die Deutschen die Verfügungsgewalt über ihre Wirtschaft und Währung der Europäischen Union übertragen. Unsere politische Klasse versprach sich damals fast einstimmig, unser Opfer werde den Weg zu einem geeinten Europa öffnen. Doch das Versprechen hat getrogen, wie die jetzige Irak-Krise mitleidlos enthüllt. Die EU ist nur eine Freihandelszone, deren riesige Bürokratie sich in alle und jede Wirtschaftsfragen einmischt und sogar Richtlinien für Kondome erläßt. Aber die dringliche europäische (außen-)politische Einigung ist noch immer so fern wie vor Jahrzehnten. Blind europaselig, haben unsere Politiker uns eine Fata Morgana, ein Windei beschert. Doch es geht unverdrossen weiter. Am 21. März erklärten die Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs und Belgiens, sie wollten nun tatsächlich eine gemeinsame Verteidigungspolitik und dabei auch gleich eine gemeinsame Streitmacht aufbauen; andere Länder seien zur Mitarbeit aufgefordert. Ein weiteres Windei? Noch fehlen die Einzelheiten. Aber für die Bewertung gemeinsamer Streitkräfte lassen sich schon Richtlinien aufzeigen. Alle modernen Kriege wurden von Koalitionsarmeen geführt. Zwischen deren nationalen Blöcken hat es oft geknirscht und die Reibungsverluste waren beträchtlich. Aber bei gutem Willem blieben Erfolge nicht aus. Eine Europa-Armee aus großen nationalen Blöcken, vielleicht Divisionen (15.000 bis 20.000 Mann), ist also vorstellbar. Wir haben Ansätze hierzu bereits heute in Gestalt des deutsch-holländischen und ähnlicher Korps. Das machte in der Nato Sinn, denn hier war auch die Politik integriert. Hieran zeigt sich, daß man Streitkräfte, das Instrument der Politik, nur dann sinnvoll integrieren, aus mehreren Nationen zusammensetzen kann, wenn die das militärische Instrument bestimmende Politik einheitlich, also integriert ist. Sonst geschieht, was derzeit bei den AWACS-Besatzungen in der Türkei erfolgt: da die den AWACS-Einsatz bestimmende Politik auseinanderstrebt, droht die Bundesregierung, die deutschen Besatzungen der Luftüberwachungsmaschinen abzuziehen. Also setzt eine integrierte Streitmacht eine integrierte Politik der die Truppen stellenden Staaten voraus. Diese aber ist ohne Souveränitätsverzicht kaum vorstellbar, denn sonst können sich die Staaten nur auf den kleinsten gemeinsamen, also bedeutungslosen Nenner einigen. Im vorliegenden Fall tritt ein gewichtiges Hemmnis hinzu: Frankreich hat sich unter großen Opfern eine Nuklearstreitmacht geschaffen. Diese gehört zum Kern seiner Militärpolitik. Nur Narrren können glauben, Frankreich werde dieses Potential einer integrierten Streitmacht einordnen, also fremdem Einfluß öffnen. Zudem dürfte eine Europa-Armee, die aus kleineren Bausteinen zusammengesetzt wird, bald auf Schwierigkeiten stoßen. Deren Überwindung wird um so mehr Zeit, Kraft, Geld und guten Willen fordern, je kleiner die nationalen Bausteine sind. Divisionen einer multinationalen Armee können selbständig fechten, sich selbständig versorgen, ihr eigenes Disziplinierungsrecht, ihre eigene Sprache und ihre eigenen Waffen usw. behalten. Aber eine multinationale Panzerkompanie (zirka 120 Mann) oder ein Bataillon (etwa 700 Mann) ist kaum funktionsfähig. Ohne einheitliche Funkgeräte und gemeinsame Sprache könnten die Truppenteile nicht melden, die Kommandeure nicht kommandieren und die Truppenteile nicht miteinander kommunzieren. Ohne einheitliche Waffen lassen sich die Waffen weder mit Munition versorgen noch rasch instandsetzen. Ohne einheitlichen professionellen Standard wird kein Vertrauen reifen. Die in der Rede stehende integrierte multinationale Streitmacht wird also immense Schwierigkeiten lösen müssen, wenn sie aus nationalen Blöcken besteht, die kleiner als etwa Divisionen, bestenfalls noch Brigaden (um 4.500 Mann) sind. Zudem sind seit Jahrzehnten Heeresverbände ohne Luftunterstützung wertlos. Eine europäische Streitmacht nur aus Heeresverbänden könnte demnach bestenfalls ein stärkeren Mächten anzubietender Baustein sein – doch davon gibt’s genug. Für Selbständigkeit ist ein Luftwaffenbeitrag zwingend erforderlich. Für ihn werden die gleichen Schwierigkeiten wie für integrierte Heeresverbände gelten. Der Aufbau einer nennenswerten integrierten Europa-Truppe wäre also möglich. Aber er wird viel Zeit, guten Willen und Geld kosten – das derzeit niemand in der EU hat. Die Gefahr, daß wir mit einem Windei verführt werden, ist groß. Optimisten und Vorwitzige seien gewarnt. Dennoch: Es wäre schlimm, wenn auch die gegenwärige Initiative von Kanzler Schröder und Präsident Chirac scheiterte. Eine Freihandelszone wird niemals den politischen Anmaßungen und Zumutungen von Groß- und Supermächten widerstehen können. Für die Zukunft unserer Völker ist die einheitliche Politik wenigstens eines Kerneuropas – auch unter bedeutsamen Souveränitätsverzichten der Einzelstaaten – unverzichtbar. Dr. Franz Uhle-Wettler , Generalleutnant a.D., war Kommandeur einer Panzerdivision und Kommandeur der Nato-Verteidigungsakademie in Rom. 2001 veröffentlichte er das Buch „Der Krieg. Gestern, Heute – Morgen?“ (S. Mittler-Verlag, Hamburg).