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Totalitäre Ideologien: Keine Privilegien für das Böse

Totalitäre Ideologien: Keine Privilegien für das Böse

Totalitäre Ideologien: Keine Privilegien für das Böse

Oktoberrevolution 1917: Täter fanden sich nicht nur bei den Kommunisten Foto: picture-alliance / dpa | dpa
Oktoberrevolution 1917: Täter fanden sich nicht nur bei den Kommunisten Foto: picture-alliance / dpa | dpa
Oktoberrevolution 1917: Täter fanden sich nicht nur bei den Kommunisten Foto: picture-alliance / dpa | dpa
Totalitäre Ideologien
 

Keine Privilegien für das Böse

Der Politologe Lothar Fritze unterzieht die ideologiegeleiteten totalitären Diktaturen einem Vergleich. Dabei fällt auf, daß die Moral der Täter sich den jeweiligen Aufgaben anpaßte. Aber auch französische Demokraten neigten zum Terror. Eine Rezension.
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Vielen gilt es als Sakrileg, Hitler nicht isoliert als einzigartiges Phänomen des Bösen in der Geschichte zu betrachten, sondern ihn und seine Partei zu historisieren, beide in ihre Zeit mit deren Herausforderungen zu versetzen und mit anderen Gestalten und Massenbewegungen in ein näheres Verhältnis zu bringen, also mit ihnen zu vergleichen. Lothar Fritze, der Politikwissenschaft an der TU Chemnitz gelehrt hat, läßt sich davon nicht abschrecken. Er steht in der Tradition der Totalitarismus-Theorie, wie sie während des Kalten Krieges in den USA entwickelt, sofort in der Bundesrepublik übernommen wurde.

Bei allen Unterschieden sieht er, wie üblich in dieser Schule, übereinstimmende Strukturelemente in der Politik dieser „totalitären“ Parteien, die sich auf Gesetzmäßigkeiten des sozialen Lebens – die ausschlaggebenden Bedürfnisse der Klasse oder Rasse – berufen. Beide fassen das Leben als Kampf auf, als Klassenkampf oder Rassenkampf. Sie rechnen mit Katastrophen, die hinüberleiten in eine bessere Zukunft.

Die Gegenwart und die dominierende bürgerliche Gesellschaft fassen beide zivilisationskritisch als Epoche des Verfalls und der Dekadenz auf. Die unruhigen Massen, die nach einer neuen, verheißungsvollen Ordnung verlangen, lassen sich begeistern von den Heilsversprechen und folgen opferbereit den Parteiführern, die mit disziplinierter Gefolgschaft rechnen, um die verschiedenen Feinde ihrer „neuen Welt“ zu entrechten oder um ihre Macht zu bringen, und sei es mit Gewalt und Terror. Bolschewistische wie nationalsozialistische Funktionäre erziehen als Führer noch unsichere und deshalb unreife Partei- oder Volksgenossen.

Die Oktoberrevolution stürzte ein morsches System

Sie befreien von bürgerlichen Restbeständen, indem sie jeden Willigen auf die Höhe des Parteistandpunktes leiten, von wo sie den wahren Überblick gewinnen über die Formationen von Freund und Feind. Nur zusammen mit der Partei können sie siegen und als wehrhafte Gemeinschaft den wissenschaftlich fundierten Wahrheiten des Klassen- und Rassenkampfes zum Triumph über die egoistischen Sozialfeinde verhelfen, die in korrupten Systemen nur an ihren Machterhalt denken.

Die Oktoberrevolution stürzte ein morsches System um. Jeder energische Funktionär konnte in den Ruf geraten, der „aufopferndste Soldat der proletarischen Revolution“ zu sein, dessen Beispiel andere dazu aufforderte, durch Kampf und Tod die schönere Zukunft vorzubereiten. Den nationalsozialistischen Aufbruch verstand Adolf Hitler als Revolution in der Absicht, zu einem Sozialismus zu gelangen, der nicht das Chaos bewirkt, sondern Ordnung schafft und eine Gemeinschaft von Führern stiftet, die allen zum Bewußtsein der Volksgemeinschaft verhilft, die jedes Opfer wert ist und Aufopferung verlangen darf.

Beide Bewegungen verlangten entschlossene Kämpfer und verherrlichten den Heldentod. Sie betrachteten das Leben ideologischer Abweichler oder Feinde als fragwürdiges Leben, das beiseite geschoben, liquidiert werden darf, um Gefahren vorzubeugen, die sämtliche Lebenskräfte der wahren Lebensmächte – Klasse oder Rasse – bedrohen und schwächen können.

Auch im Namen der Demokratie wurde gemordet

Der Appell an Opferbereitschaft und Liebestod für die allumfassenden Gemeinschaften ist gar nicht so revolutionär und neu, wie die Ideologen des Totalitarismus suggerieren wollen. Seitdem es Geschichte gibt, verlor jeder seine Ehre und Würde, der nicht seiner Verpflichtung genügte, für das Vaterland zu sterben, sobald dessen Existenz bedroht war. An die Stelle des konkreten Vaterlandes traten jetzt ideologisierte Abstraktionen wie Klasse, die Sozialstruktur, die Rasse, die Menschheit oder die übernationale Gemeinschaft der Arier.

Lothar Fritze: Kommunismus und Nationalsozialismus - das Buch können Sie im JF-Buchdienst bestellen.
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Aber auch die herkömmlichen Gegebenheiten wie Nation und Vaterland wurden schon früher, während der Französischen Revolution, im Namen der Vernunft, der Demokratie, der Humanität ideologisch verfremdet und im Namen der unfehlbaren Partei wahrhafter und wehrhafter Demokraten, der Jakobiner, mit totalen Ansprüchen an den Bürger und „Menschen“ verknüpft. Wer den Ansprüchen nicht genügte, wurde geköpft, ertränkt und erschossen.

Die Verfechter des parteilich-ideologischen Totalitarismus halten es allerdings für ein Sakrileg, die Demokratie und den Westen mit solch peinlichen Übertreibungen in Panik geratener früherer Republikaner in Verbindung zu bringen, weil völlig verstrickt in den Mythos von der befreienden Kraft der revolutionären Vernunft, wie sie „im Westen“, also in England, in den USA und in Frankreich als Wandler der Welt wirkte. Doch es war die konsequente und radikale Demokratie unter Robespierre, die 1793/94 bewußt den Terror einsetzte zum Schutz der Republik und der Revolution, die wegen ihres offenkundig verbrecherischen Charakters ihre Anziehungskraft für die Besonnenen auch in Frankreich und Westeuropa verloren. Die Theorie des Totalitarismus hängt unmittelbar mit der „westlichen Wertegemeinschaft“ und mit der Menschenrechts-Moral zusammen, die sie als allgemein menschlich und natürlich beschreibt.

Täter paßten ihre Moral an

Der Kommunismus und Nationalsozialismus stürzen Lothar Fritze in mannigfache Analysen, wie es sein kann, daß Nationalsozialisten oder Kommunisten bei ihren verbrecherischen Handlungen meist gar nicht in Gewissenskonflikte gerieten, sondern davon überzeugt waren, Notwendiges zu tun, um den Zielen der Partei und ihrer ideologischen Programme näher zu kommen. Für moralisch hoch aufgerüstete Vertreter „des Westens“ ist es unfaßbar, daß es „Täter“ gibt, die mit ruhigem Gewissen ihre Feinde quälen und ermorden, obschon sie sich damit als Unmenschen erweisen.

Ein Blick zurück zur Französischen Revolution, in die Geschichten der kolonialen Eroberungen und „Befriedungen“ könnte sie darüber unterrichten, daß es auch vor Kommunisten und Nationalsozialisten immer wieder solche „Täter“ gab, die je nach den Umständen ihre Moral den momentanen Aufgaben anpaßten, was Lothar Fritze irritiert.

Moral ist relativ

Eine allgemein menschliche Moral gibt es nicht, wie „wir“, Lothar Fritze und die leidenschaftlichen Menschenfreunde im Westen, voraussetzen. Die Geschichte ist ein Reich voller Grausamkeiten und Verbrechen. Die Fähigkeit des gar nicht guten Menschen, Böses zu tun, kennt keine Grenzen. Die jeweiligen Menschen in ihren jeweils anderen Zeiten können immer Gründe finden, sich im Einklang mit den sittlichen Ideen ihrer Gemeinschaft zu befinden, auch wenn sie zu außergewöhnlichen Mitteln greifen müssen. Den für die späteren Europäer wegen ihrer Tugenden und ihres Rechts stets vorbildlichen Römern wurde vorgeworfen, mit Morden und Plündern ihr Reich zu erweitern und dabei Einöden zu schaffen. Ging es um ihr Reich oder die Existenz, erschien ihnen alles gerechtfertigt, was zum Erfolg führte.

Lothar Fritze scheut davor zurück, „die Moral“, die heutige, zu verletzen und sich darauf einzulassen, daß jede Moral im Laufe der beweglichen Geschichte des stets beweglichen Menschen relativ und vorläufig ist. Unweigerlich gerät er in moralistische Reflexionen und verliert darüber die Geschichte und die Wirklichkeit aus den Augen, daß „auch die zivilisiertesten Völker nicht weiter von der Barbarei entfernt sind als das glänzendste Eisen vom Rost. Die Völker und die Metalle sind nur an der Oberfläche poliert.“

Zu dieser nüchternen Erkenntnis brachten die Schreckensherrschaft und überhaupt die Revolution einen von ihr verfolgten Beobachter, den Grafen Antoine de Rivarol, den die praktischen Konsequenzen der totalen Herrschaft über den Menschen im Namen der Vernunft nicht eben hoffnungsfroh stimmten.

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Lothar Fritze: Kommunismus und Nationalsozialismus. Antipoden und Zwillingsbrüder. Manuscriptum Verlag,  Lüdinghausen  2022, gebunden,  365 Seiten, 22 Euro. 

JF 10/22

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