Das 500-jährige Reformationsjubiläum im Jahr 2017 wirft weiterhin seinen langen Schatten voraus. So ging diese Woche Christian Geyer in der FAZ in einem außergewöhnlich langen und teilweise bedenkenswerten Artikel über die richtige Einstellung zur Reformation der Frage nach, was Luther uns heute noch zu sagen habe und ob man ihn nach heutigen Kriterien denn nicht eigentlich als Volksverhetzer einstufen müsse.
Zu den allgemeinen Schwierigkeiten, sich in die Situation des frühen 16. Jahrhunderts hineinzuversetzen, wurde zitatweise Hans Magnus Enzensberger bemüht, der letzthin irgendwo bemerkt haben soll, man könne sich allenfalls bis in die Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts zurückversetzen, alles weitere liege zu weit zurück. Das scheint uns gerade in dieser Sache ein etwas befremdliches Urteil zu sein, denn es drängen sich manche Parallelen geradezu auf. Da wäre zum Beispiel die drohende kulturelle Überfremdung, gerade im sprachlichen Bereich. Nun gut, ganz so weit wie damals sind wir noch nicht. Bei Luthers Ausbildung wurde kräftig verdroschen, wer im Seminar Deutsch zu sprechen wagte. Aber weist denn der hochoffizielle Versuch, Deutsch als Wissenschaftssprache von den Universitäten zu verdrängen, nicht sanft auf die aktuelle Wiederherstellung von Zuständen hin, die man unter diesem Aspekt als vorreformatorisch bezeichnen kann? Luther holte sich – und uns – mit seiner Bibelübersetzung schließlich seine Sprache zurück.
Und dann der Ablaßhandel als Teil der erwähnten Überfremdung. Das Gewissen der Deutschen in den Händen von Mächten fremder Zunge, aber zu erlösen oder wenigstens seine Not zu lindern durch den steten Fluß ansehnlicher Zahlungen. Ist denn nun das Mantra, “aufgrund unserer Geschichte” müßten wir den Milliardenstrom in Richtung Brüssel und den Euro eben bezahlen, wirklich etwas anderes, als die moderne Variante von, “wenn die Münze erst im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt”?
Lassen wir das, und wenden wir uns der Frage der Volksverhetzung zu. Was ist das eigentlich? Das entsprechende, inzwischen recht lang gewordene Gesetz gibt darüber Auskunft. Das sei zum Beispiel der Fall, wenn jemand “die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet”.
Nun wird niemand, der je in den deftigen Schlagabtausch hineingelesen hat, der Anfang des 16. Jahrhunderts geführt wurde, an der vollständigen Erfüllung des Tatbestands zweifeln. Man machte sich in Wort und Tat gegenseitig so verächtlich wie nur möglich, man beschimpfte sich nach besten Kräften. Es ging in den Augen der Beteiligten um alles, nicht nur um Macht oder Geld, sondern um den Sinn der Welt und die Seele selbst. Die Reformation wurde schließlich eine Gewaltexplosion, die Luther nicht gewollt hatte und die er dann zu bremsen versuchte, die er aber wesentlich verursacht hat. Dennoch läßt man in der FAZ durchblicken, daß die Kategorie “Volksverhetzer” doch nicht so recht passt und fordert am Ende die “Historisierung” Luthers, verstanden als zeitlose Würdigung eines bedeutenden und zerrissenen Menschen. So könnte es in der Tat gehen, aber bis 2017 ist noch weit.