KAIRO. Positive Überraschungen erhellen das Leben. Ankunft in Kairo. Ein Passant im arabischen Galabija reicht die Hand: „Willkommen in Ägypten!“ Im vollen Bus bietet ein junger Mann einer älteren Frau seinen Platz an. Und auf dem Tahrir-Platz legte das Sammelsurium von Protestierern und Besuchern Wert darauf, nicht die frisch angelegten Blumen zu zertrampeln. Mit dem Märtyrer-Denkmal inmitten des Tahrir verfährt die aufbrausende Jugend dagegen ganz anders: Innerhalb von 24 Stunden ist der noch am Montag von Übergangspräsident Adly Mansour eingeweihte Gedenkstein für die Toten der revolutionären Wirren rigoros demoliert worden – die Bruchstücke liegen weit verteilt, und kursieren in der anarchischen Szene Kairos mittlerweile als Souvenirs.
Gewalt aus heiterem Himmel
Für einen jungen Mann aus Deutschland stellt es kein Problem dar, Tag und Nacht durch die ägyptische Hauptstadt zu wandern. Das Gefühl sagt: Es ist sicher. Doch die ägyptische Fernseh-Reporterin Wafaa al-Badry warnt: In der Nacht zum Montag sei im Osten Kairos ein gegen Islamisten ermittelnder Sicherheitsbeamter aus dem Hinterhalt von sieben Kugeln durchsiebt worden. Und wenige Tage zuvor habe man eine junge Frau mit kurzem Rock im Stadtzentrum mit Säure attackiert. Wafaa bestätigt einen aktuellen Bericht von Spiegel Online, wonach 99,3 % der ägyptischen Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer sexueller Belästigung würden.
„In erster Linie sind wir wegen der Mädchen hier“, sagt Saif, ein hochgewachsener junger Mann in Nietenhosen. Er stellt sich als erfahrener Politaktivist vor und berichtet, in 15 Jahren würde die ganze Welt zu Ägypten aufschauen. Das Land am Nil sei die „Mutter der Erde“. Seine Leute hätten in jüngster Vergangenheit das Erdöl am Persischen Golf entdeckt und den Strom erfunden, glaubt er allen Ernstes. Allein ist er mit solchen Überzeugungen nicht. Auf die Frage, ob das Rauchen von Marihuana oder die geheimen Sex-Treffen der ägyptischen Jugend nicht gegen den Islam verstießen, wird er unwirsch: „Mische unseren Islam nicht mit dem Leben. Wir brauchen das im Moment. Wenn wir später zum Glauben finden, wird Allah uns verzeihen. Das wichtigste ist, dass wir Muslims sind.“
Aktionsziel Testosteron-Verbrennung?
Im bunten Klamauk der diversen Gruppen aus insgesamt 2.000 bis 3.000 Demonstranten, die sich am Dienstag auf dem Tahrir-Platz versammelt haben, lassen sich amüsante Gespräche führen. Die jungen Aktivisten berichten, woran man optisch erkennen könne, ob ein Mädchen „gute Muslima“ oder „Schlampe“ sei. Die Halbstarken drängen mich zu zwei abseits sitzenden jungen Frauen. Ihr Vergehen ist, daß sie rauchen. Eines der Mädchen, Manar, studiert Deutsch. „Ihr seid Vorbild für uns“, sagt sie, „da Frauen im Westen frei sind und mit Respekt behandelt werden.“ In Ägypten gäbe es dagegen keine Zivilisation. Für 70 % der Ehen sei Gewalt an den Frauen normal. „Es liegt am Koran“, so die muslimische Studentin. Dort sei das Schlagen der Gattinnen legitimiert und gelte als Normalzustand, dem sich gut die Hälfte der Frauen kritiklos fügten. „Aber das ändert sich gerade“, sind sie und ihre Freundin überzeugt. „Alle ägyptischen Frauen sind wütend. Und wir werden einen Aufstand gegen die Kerle führen.“ Wie das gehen soll, kann sie allerdings nicht sagen. Der heimliche Besuch auf dem Befreiungsplatz sei zumindest ein Schritt, den Zwängen in der Familie zeitweise zu entweichen.
Der Tahrir-Platz steht in Flammen
Als es dunkel wird, ziehen die beiden von dannen. Die Lage eskaliert. Demonstranten schießen mit Feuerwerkskörpern auf die nahe gelegenen Stellungen der Polizei. Steine fliegen. Holzbarrikaden werden angezündet. „Wir hassen die Polizei und wollen, daß die Regierung geht“, so die Aktivisten. Über Alternativen macht sich niemand Gedanken. Im bunten Familien- und Geschäftstrubel, der parallel zur Straßengewalt Fortgang findet, lassen sich die diversen Meinungen kaum noch zählen: Mubarak-Nostalgiker, Freunde des Generals Sisi und frustrierte Anhänger des gestürzten Mohammed Mursi mischen sich mit den zahlreichen Desillusionierten. „Fotografiere mich ruhig“, so ein Mann mit Gasmaske, „es ist eh alles egal“.
Immerhin: Die journalistische Arbeit ist in diesen Tagen weniger Beschränkungen unterworfen als noch 2011. Die Armee stört sich schon lange nicht mehr daran, wenn ihre Panzer fotografiert werden. Selbst die Toleranzschwelle gegenüber den Gewaltaktivisten erscheint heute höher als bei den Polizeieinheiten in Berlin-Kreuzberg am 1. Mai. Umso seltsamer gestaltet sich gute drei Stunden später der Umschwung in der Strategie. Erst sporadisch und wahllos, fliegen die Rauchbomben geballt in die Menge. Haut und Augen fangen an zu brennen – alle ringen nach Luft, als Reizgas die Umgebung einhüllt. Gefährlich ist die Schrotmunition, welche die Polizei in die Luft feuert. Während der Kämpfe in der Mohammed-Mahmoud-Straße vor genau zwei Jahren, waren neben 40 bis 50 Toten auch zahlreiche Erblindete zu beklagen gewesen. Diesmal ist es entschieden weniger blutig, als Polizei und Armee schließlich den Tahrir-Platz erobern. Das Fußvolk rennt eilig in die Nebenstraßen davon. Rund ein Dutzend Krankenwagen sind vor Ort – Ärzte versorgen die Verletzten, und bestreiten, mit den Sicherheitskräften zu kooperieren.
Die Armee richtet alles
Schließlich geschieht, was mit Ende der nächtlichen Ausgangssperre in der vergangenen Woche nicht mehr sein sollte: Panzer der Armee sperren wieder einmal die Zugänge zu Kairos Befreiungsplatz ab. Jetzt trauen sich einige Jugendliche schreiend zurück. Die Soldaten reden auf sie ein, Ruhe zu bewahren. Einige Meter weiter ringen Militärs mit Polizisten, sich ebenso zurückzuhalten. Die eher verhassten Ordnungshüter brauchen nur ihr Blaulicht einzuschalten, um die Menge erneut in die Flucht zu treiben.
Ägypten scheint wieder einmal die Rolle einer arabischen Vorreiterfunktion einzunehmen: Nicht mehr länger nur dem politischen System droht eine Zersetzung – sondern selbst den über Jahrhunderte im Islam erstarrten Gesellschaften.