Am Waffelhaus herrscht reger Andrang. Schirm um Schirm reiht sich an der kleinen Weihnachtsmarktbude. Neugierig wird geschnuppert, Aushänge werden studiert, Kinder stibitzen heimlich Knabberproben von der Theke. Zwar regnet es in Strömen – so wie fast jeden Tag in Vancouver –, doch was ein waschechter Britisch-Kolumbianer ist, der läßt sich auch vom schlechten Wetter nicht davon abschrecken, Neues zu entdecken. In diesem Falle einen „Deutschen Weihnachtsmarkt“, wo man ihn am wenigsten vermutet.
Erst vor drei Jahren ins Leben gerufen, etablierte sich der Deutsche Weihnachtsmarkt im Herzen der glitzernden Hochhausfassaden der Downtown Vancouvers bereits zu einer der beliebtesten Attraktionen der Metropole. Täglich finden sich bis zu 20.000 Besucher auf dem 50-Hütten-Platz vor dem Queen Elizabeth Theatre ein. Allein in diesem Jahr erwarten die Veranstalter bis zu 300.000 Schaulustige. Beachtliche Zahlen für eine Stadt mit gerade einmal einer halben Million Einwohner.
So europäisch wie das Deutschland in der Heimat
Dabei fing, wie so vieles in Kanada, alles recht unspektakulär an. „Anfangs hatte niemand wirklich an einen Durchbruch dieser Idee geglaubt“, berichtet einer der ausstellenden Kunsthandwerker. Doch im Laufe der Jahre lernten die Organisatoren der Öfentlichkeitsarbeit ordentlich hinzu. Radiowerbung wurde geschaltet, Gewinnspiele kreiert. Die großen Fernsehanstalten der Provinz am Pazifik senden regelmäßig live ihre Wetterberichte vom Markt, und dieser selbst ist – gleich dem fernen Deutschland – weit europäischer geworden als anfänglich geplant.
Neben typisch deutschen Produkten wie Weißwurst, Kartoffelsuppe, erzgebirgischen Räuchermännchen und Plauener Spitze finden sich nun auch polnische Bleche. Eine griechischstämmige Familie vertreibt gleich neben dem Glühweinstand Kaffeespezialitäten aus dem Orient zusammen mit nach altem deutschen Hausrezept gebrannten Mandeln.
Gegenüber der Waffelbäckerei finden sich französische Crêpes, und zwischen den Buden für original Duisburger Weihnachtsbonbons und amerikanischem Stollen mit Kürbisfüllung findet sich sogar noch ein Stand für Wollmützen aus Nepal. Auch irgendwie deutsch, so das Credo der Händler – schließlich tragen auch Deutsche Mützen.
Eine Gelegenheit, lang vergessene Traditionen zu entdecken
Das Alte-Welt-Flair lockt Besucher an wie ein Magnet. Lange Zeit über hatte Kanada seine deutschstämmigen Einwanderer schlicht vernachlässigt. Veranstaltungen wie der Deutsche Weihnachtsmarkt bieten jung und alt nun wieder die Gelegenheit, ihre lang vergessenen Traditionen – oder auch jene ihrer Großeltern – einmal mehr auszuleben. Besonders beliebt: mit den deutschen Händlern auf deutsch zu plaudern.
„So was kennen wir zu Hause ja gar nicht mehr“, berichtet Ruth, eine fröhliche ältere Dame, als sie die Auslagen des Lauschaer Baumschmuckstands bewundert. Ihre Familie sei zu Kriegsende aus Ostpreußen geflohen, erzählt sie, und eigentlich nur aus Zufall über Umwege in Kanada gestrandet. „Natürlich sprachen wir Kinder die ersten Jahre noch Deutsch untereinander, aber von Jahr zu Jahr nahmen wir immer mehr englische Vokabeln in den Gebrauch auf.“ Germlish, fügt sie scherzend hinzu. So nennen die Deutschstämmigen ihre Sprache in British Columbia.
„Schau mal, diese pretty little Sachen“
Ein alter Mann gesellt sich Rauchwurst knabbernd hinzu. Er komme soeben vom Schwarzwälder Bratstand, erzählt er, und sei ganz begeistert davon, daß man dort sogar sein Rest-Schwäbisch verstanden habe. „Seit 50 Jahren lebe ich nun in Kanada“, so der Ur-Stuttgarter. „Und jetzt erst merke ich, ein richtig antiquiertes Schwäbisch zu sprechen, mit Wörtern, die heutzutage wohl keiner mehr benutzt.“ Man träfe in Kanada halt selten jemanden, um seinen Dialekt zu üben, was er sehr bedauere.
Tatsächlich scheint Germlish insbesondere unter den älteren Generationen weit verbreitet. „My goodness, was für ’ne Crowd an Menschen“, hört man Besucher sprechen. Oder auch: „Schau mal, diese pretty little Sachen!“ Dem bunten Kontrast an Zungen und Sprachen zu lauschen, wird dadurch nicht nur den Gästen des Weihnachtsmarktes zum Vergnügen, sondern ebenso den oftmals nur für die Schau aus Deutschland nach Vancouver angereisten Händlern.
In der Taverne zwei Blöcke weiter trinkt Darwin seinen Pint Bier und schaut American Football. Seine Urgroßeltern kamen schon vor beinahe einhundert Jahren nach Amerika. Deutschstämmige aus Rußland, welche aufgrund ihrer Zarentreue vor den kommunistischen Revolutionären fliehen mußten. Die deutsche Sprache, berichtet der Rentner zwischen zwei Schnäpsen, kenne er allerdings nur aus Büchern und Filmen, und habe sie sich dadurch mühsam aneignen müssen. „Immerhin“, so Darwin, „ist Deutsch ja ein wichtiger Bestandteil meiner Familiengeschichte. So etwas darf nicht in Vergessenheit geraten.“
Deutsche hinterließen in Kanada wenig Spuren
Kanadas Geschichte ist nicht unbedingt eine der Deutschen. Kaum eine der hiesigen Berühmtheiten ziert ein deutscher Name, und das obwohl etwa zehn Prozent der Kanadier angeben, ihre Wurzeln in Mitteleuropa zu haben. Das ist in Vancouver nicht anders. Allein etwa 100.000 Deutschstämmige leben in der Stadt, im umliegenden Ballungsgebiet schätzt der staatliche Zensus bis zu einer halben Million.
Bei einem Großteil von ihnen wird Tradition großgeschrieben. So widmet sich nicht nur der Vancouver Alpen Club der Förderung der deutschsprachigen Gemeinde, inklusive „bürgerlicher deutscher Küche in erstklassiger Qualität“, Skat und „Sprechklassen“ für Drei- bis Siebenjährige, auch der Victoria Edelweiß Club brilliert mit Schnitzelabend, Schuhplattlergruppe und Oktoberfest.
Etwas abseits der Traditionspflege, für die auch der Männergesangsverein Lyra steht, sorgt das deutschsprachige Ahorn TV für Unterhaltung, die deutschen Sprachschulen „Surrey“ und „Victoria“ für Bildung sowie die Evangelisch-Lutherische St. Markusgemeinde für geistigen Beistand.
„Hörzlisch willkommen!“ auf dem Weihnachtsmarkt
Jürgen, der Besitzer des Schwarzwälder Bratwurststandes am Markt, ist einer der alteingessenen Deutschen. Als frisch ausgebildeter Koch kam er mit 21 Jahren nach Kanada und verdiente sein erstes Geld in den Großküchen der Hotels, bis es ihm vor zwei Jahrzehnten gelang, seine eigene Fleischerei zu eröffnen. Wie er auf die Idee kam, deutsche Wurst in Amerika zu verkaufen? „Na, man kannte ja damals nichts anderes“, erzählt er. Und die Kanadier deutsche Speisen bis dahin noch nicht. Das erste halbe Jahr sei trotzdem sehr hart gewesen. Mittlerweile zählt sein Unternehmen 25 Angestellte. Die Kanadier, so Jürgen, reißen sich förmlich um seine Produktpalette aus Weiß- und Rauchwürstchen, Riesenknacker sowie frisch gebackenen Brezeln.
Als Fan deutscher Weißwürste bezeichnet sich auch C. J. gern. Zehn Jahre war der bullige Schwarze mit der Statur eines ausgewachsenen Grizzlybären in Mannheim als Soldat stationiert. Heute begrüßt er die Gäste des Weihnachtsmarktes in Vancouver mit breitem Grinsen auf den Lippen: „Hörzlisch willkommen!“ Mit seiner Arbeit einmal mehr Teil der deutschen Gemeinschaft sein zu können, sei für ihn ein Glücksfall, so C. J., während er von seinen Erlebnissen in Deutschland schwärmt.
Kanada legt die Latte für Einwanderer hoch
Auf dem Markt ist er übrigens einer der wenigen Deutschsprechenden: Etwa ein Viertel aller Besucher besitzt einen asiatischstämmigen Hintergrund, vor den Ständen trifft man auf Indianer, Latinos, Moslems und Juden. Sie alle verbindet das Interesse an einer Kultur, welche in Kanada noch immer als bedroht gilt. Zwar gibt es regen Nachschub an Einwanderungswilligen aus Deutschland, doch viele bleiben nur für ein Jahr oder weniger.
Eine permanente Aufenthaltsgenehmigung in Kanada zu erhalten, ist schwerer denn je. Schon jetzt platzen Städte wie Vancouver aus allen Nähten. Arbeit und vor allem Wohnraum sind knapp bemessen. Unzählige leben unterhalb des Existenzminimums, Tausende, meist nicht registrierte Obdachlose, campieren nachts Schlafsack an Schlafsack auf den Fußwegen der Armenviertel. Weit über 100.000 weitere Kanadier sind allein in Vancouver vom Verlust ihrer Zuflucht bedroht. Selbst gutausgebildeten Deutschen fällt es von daher schwer, in dieser Stadt dauerhaft Fuß zu fassen.
„Den ersten Monat in Kanada hab ich in einem Schlafsaal mit 40 anderen Leuten verbringen müssen“, erzählt Tim. Der junge Betriebswirtschaftler aus Gera konnte dank eines Arbeitsangebotes mittlerweile in eine kleinere WG umziehen: Als Kehrer verdient er sich nun auf dem Weihnachtsmarkt seinen doch recht ansehnlichen Lebensunterhalt. Durchhalten möchte er so oder so. „Die Arbeit hier macht ja auch Spaß“, so Tim. „Immerhin ist man nicht irgendwo, sondern gerade in Vancouver, der fröhlichsten Stadt Kanadas!“ Und außerdem ist ja bald Weihnachten.
JF 52/12