In der auf Wirtschaftsgeographie verkürzten Sicht der Gegenwart besteht Brandenburg – vom „Speckgürtel“ um Berlin abgesehen – nur aus „Randregionen“: Uckermark, Lausitz und Prignitz. Letztere erscheint unter den dreien als die namenloseste. Wem zu Lausitz und Uckermark noch Impressionen einfallen, der bleibt spätestens bei der Prignitz unschlüssig.
Und tatsächlich schweigen sich aufwärts der Frühgeschichte – die verzeichnet immerhin das bronzezeitliche „Königsgrab von Seddin“ – die historischen Karten aus. Obwohl seit askanischer Zeit, dem 12. Jahrhundert, zur Mark gehörig, gingen die großen Ereignisse an diesem äußeren Nordwesten des Landes vorbei.
Eine Landschaft jenseits des Grandiosen? Im Gefolge Albrechts des Bären gelangte der deutsche Adel aus Niedersachsen und der Altmark ins Wendische. Die zu Putlitz, von Platen, von Moellendorff, von Königsmarck errichteten ihre Burgen, vom Bistum Havelberg aus christianisierten die Prämonstratenser, die Klöster Heiligengrabe und Marienfließ, beide von Zisterzienserinnen geführt, stärkten den Landesausbau. Ora et labora!
Der Große Kurfürst baute das geschundene Land wieder auf
Immerhin, eine literarische Episode, aufgeschrieben von Theodor Fontane in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, verdankt sich dem spröden Landstrich. Als nach dem Aussterben der Askanier im 14. Jahrhundert die Mark landesfernen Herren, erst den Wittelsbachern, dann den Luxemburgern, zufiel, nutzten dies die Ritter von Quitzow, sich nicht nur die Prignitz, sondern die gesamte nördliche Mark und zeitweise sogar das freilich noch bescheidene Berlin zu unterwerfen. Diese Raubritter, frühe Warlords, duckten das Land ein ganzes Jahrhundert, bis sie von Burggraf Friedrich VI., dem ersten Hohenzollern in der Mark, geschlagen wurden, maßgeblich, weil neuartig schweres Geschütz, die „Faule Grete“, ihre Burgen niederlegte.
Andererseits war dies die Zeit der „Devotio moderna“, der spätmittelalterlichen neuen Frömmigkeit, in der sich die Wunderblutkirche Wilsnacks zu einem der größten Wallfahrtsorte Europas entwickelte.
Was gerade kleinblütig gewachsen war, zertraten die Landsknechthaufen des Dreißigjährigen Krieges. Die Kaiserlichen zogen ebenso durch wie Dänen und Schweden. Bei Wittstock fand 1636 eine der letzten Schlachten statt, und 2007 stieß die Schaufel eines Radladers dort auf ein Massengrab. Erst dem Großen Kurfürsten sollte es gelingen, die Grundlagen für ein starkes Brandenburg zu legen und die geschundene Prignitz wieder aufzubauen.
Zäh krallen sich die Höfe auf dem kargen Sandboden fest
Ertragsarmes Land, der Ackerbau auf dem Altmoränengebiet schwierig. Fragt man nach Bodenwertzahlen, wird abgewunken. Sand! Und doch krallen sich die engen Höfe mit ihren windschiefen Ställen und Scheuern seit Jahrhunderten in diesem letzten Brandenburgwinkel fest – zähe, flach unterm hohen Himmel hingeduckte Bodenbrüter, karges, aber fest an den Knochen liegendes Leben. Zur Elbaue hin werden die Wiesen satter, die Dörfer reicher. Mehr Backstein als Lehm, rote Klinker, heller Stuck, Veranden mit sommers knisternd abblätternder Farbe, Staketenzäune, früher moosgrün und weiß bespitzt. Mancher Wirt leistete sich sechs Linden vor der Kneipe. Verblassende Schrift: „Zu den sechs Linden. Gepflegte Speisen und Putlitzer Biere. Ausspannung“. Ausspannung. Was für ein gutes Wort.
Wer kam schon von hier? Turnvater Jahn, Pastorensohn aus Lanz, von den Universitäten verwiesen, verfolgt, in Haft, aber „frisch, frey, fröhlich, frumb“ eine der Symbolfiguren des nationalen Gedankens, Gottfried Arnold, Pastor in Perleberg, erweckter Pietist, „Engelsbruder“, Verfasser einer „Kirchen- und Ketzergeschichte“, die auf Friedrich den Großen, Lessing und Goethe wirkte, Lotte Lehmann, Operndiva, jubelnd beklatscht in Neu York, wie man damals sagte. Nur ein echter Dichter, geboren im Mansfelder Pfarrhaus bei Putlitz, später als Arzt in Berlin oft der Heimat gedenkend, wo sein „Lebensweg eines Intellektualisten“ begann – Gottfried Benn.
Jeder fünfte verließ die Prignitz seit der Wende. Sie ist der Kreis mit der größten Abwanderung. Ein stilles, vergessenes Stück Deutschland, das wiederzuentdecken wäre