Was heißt eigentlich „Religion haben“? Die meisten Menschen der meisten Epochen der meisten Kulturkreise würden antworten: „Einen Gott verehren.“ Das ist nicht dasselbe wie: „An einen Gott glauben.“ „Glauben“ ist ein Spezifikum der neueren Religionen, eigentlich nur der monotheistischen, und setzt ein inneres Verhältnis zu einer transzendenten Macht voraus, hängt mit der Vorstellung von einem personalen Gott zusammen, der ein „Wesen“ hat, an das sich der Gläubige wenden kann und das Interesse an ihm nimmt.
Dagegen hat man es im Normalfall der Religionsgeschichte mit einer wesentlich nüchterneren Vorstellung zu tun: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft definiert sich über die Riten. Entscheidend ist, ob man die heiligen Handlungen vollzieht oder nicht vollzieht, ob man das Opfer auf die vorgeschriebene Weise zu den vorgeschriebenen Zeiten darbringt oder nicht darbringt, ob man die Menge an festgelegten Gebeten auf die richtige Art spricht oder nicht spricht.
Ein sicheres Mittel zur Kontrolle der Gemeinde
Der Vorzug dieser Art von Pragmatismus liegt auf der Hand: In der Feststellung der Teilnahme an rituellen Abläufen hat die Führung ein sicheres Mittel zur Kontrolle der Gemeinde. Aber selbstverständlich spielt für die Stabilität des Konzepts auch Verhaltenssicherung eine Rolle. Das hat mit jener „Entlastung“ zu tun, von der Arnold Gehlen sprach, und die die Fraglosigkeit des Ritus dem einzelnen vermittelt, weshalb nicht überrascht, daß auch die Religionen, die an sich auf Glauben setzen, den institutionellen Vorteil nutzen, den der regelhafte Vollzug hat.
Im Fall des Christentums kann man das vor allem an den älteren Formen, den orientalischen und orthodoxen Kirchen, dann dem Katholizismus, sehr genau beobachten, und noch die Rückkehr der Anglikaner zu Messe und Priestertum nach einer Anfangsphase protestantischer Radikalität gehört in denselben Kontext. Allerdings war der Ablauf im Einflußbereich der Reformation sonst ein anderer, neigte man hier immer dazu, die Verinnerlichung bis zum Letzten zu treiben und „das Äußerliche“ abzuwerten. Daß das konsequent, aber unklug war und man die Religion einer ihrer wichtigsten Stützen beraubt hat, ist heute unverkennbar.
Es geht vor allem um Ritualreste
Deshalb wirkt die Suche evangelischer Kirchenobrigkeit nach – ausdrücklich so genannten – neuen Ritualen nicht nur unfreiwillig komisch, sondern auch tragisch. Tragisch insofern, als die Einsicht in den Nutzen von ritualisierten Handlungen diese nicht hervorzubringen vermag. Wenn, dann muß man auf den erstaunlich zählebigen Bestand zurückgreifen, der sich trotz wachsender Kirchenferne und innerer Distanziertheit zu den tradierten Glaubensinhalten hält und den aufzugeben sogar jenen schwerfällt, die längst ihren Austritt erklärt haben.
Es geht dabei vor allem um Ritualreste: die Teilnahme am Weihnachtsgottesdienst, in landwirtschaftlich geprägten Gebieten auch am Erntedankfest, der Wunsch nach Lebensfeiern, von der Taufe und Erstkommunion oder Konfirmation über die kirchliche Hochzeit bis zum Auftreten des Geistlichen am Grab bei der Beerdigung. In den Zusammenhang gehört auch der Widerstand gegen die Preisgabe von Kirchengebäuden, die faktisch ohne Gemeinde sind, aber eben zum Dorfbild gehören, oder die mehr oder weniger überraschenden Einstellungen, die eine jüngst veröffentlichte Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach zutage förderte.
Mehrheit ist gegen eine Gleichstellung von Christentum und Islam
Denn angesichts der sinkenden Mitgliederzahlen der großen Kirchen, des kontinuierlichen Rückgangs der Gottesdienstbesucher und des um sich greifenden Säkularismus erstaunt doch, daß sich die Mehrheit der Befragten gegen eine Gleichstellung von Christentum und Islam ausspricht, daß christliche Feiertage nicht einmal für die weitgehend konfessionslosen Mitteldeutschen zur Disposition stehen und die christliche Basis der nationalen wie der europäischen Kultur betont wird.
Das hat weniger mit „christlichen Werten“ zu tun, die Allensbach zur Interpretation bemüht, mehr mit einer bestimmten Verhaltensprägung, die im allgemeinen kein Gegenstand der Reflexion ist, aber stärker ins Bewußtsein tritt, je deutlicher sich Konkurrenz abzeichnet und nicht nur eine bestimmte Art zu denken in Frage gestellt wird, sondern auch eine bestimmte Art zu leben.
„Kulturchristentum“ als Rückkehr in den Normalfall
Derartige Verhaltensprägungen können noch sehr lange weiterbestehen, selbst wenn die dahinterstehenden Begründungsmuster verschwunden sind oder niemand mehr den eigentlichen Zweck zu erklären weiß. Insofern könnte man die neue Art von „Kulturchristentum“ auch als Rückkehr in den religionssoziologischen Normalfall deuten:
Man weiß zwar nicht, warum diese Formel aufzusagen oder diese Handbewegung zu machen ist, warum man sich an diesem Tag versammelt und das Gotteshaus so und nicht anders aussieht, aber es gibt eine Menge an Gewohnheiten, die damit verknüpft sind und die aufzugeben man scheut. Das ist dann allerdings auch eine Grenzbeschreibung, denn das, was es noch gibt, hängt von einer Basis ab, die sich erkennbar nicht regeneriert.
Man wird zwangsläufig an die Feststellung Georges Sorels erinnert, daß die, die vor uns waren, von einem Schatten lebten, und wir vom Schatten eines Schattens, weshalb unabweislich die Frage zu stellen bleibt, wovon man nach uns leben wird.
JF 41/12