Gerald Hüther gehört zu den trendigsten Neurobiologen der Gegenwart. Sein Credo: Die Potentiale des menschlichen Gehirns werden unter den allzu mangelhaften Bedingungen des gegenwärtigen kulturellen und sozialen Umfeldes zu wenig genutzt. Mit Rousseau und Marx gedacht: Es kommt also darauf an, dies zu verändern. Titel seines neusten Buches: Jedes Kind ist hochbegabt. Nein, natürlich neue Rechtschreibung: hoch begabt.
Hatten ausgezeichnete Abiturienten früherer Jahrgänge kaum je das Kompliment Talent gehört, avancierte Hochbegabung seit den Neunzigern zu einem dauerpräsenten Lieblingsbegriff der Pädagogik. Selbstverständlich gibt es hochbegabte Kinder. Es gibt sie sicherlich sogar unter den 14 Prozent Schulabbrechern und den 20 Prozent funktionalen Analphabeten, die der Rat für Rechtschreibung im Bereich der Fünfzehnjährigen gemessen hat. Und noch kein Zeitalter stand für optimale Förderung. Intellekt allein reichte selten; er mußte sich erst durchsetzen und – oftmals vergeblich – auf glückliche Umstände hoffen.
Kulturpessimisten und manche Hirnphysiologen befürchteten in letzter Zeit, daß mit TV- und Computerherrschaft ein Zustand gesellschaftlicher Verdummung einsetzte. Dagegen scheint ein nach dem amerikanischen Politologen James Flynn benannter Effekt zu sprechen: Mitte der Achtziger hatte Flynn ausgemacht, daß der IQ in den meisten Teilen der Welt seit Jahrzehnten in jeder Generation um 5 bis 20 Punkte gestiegen war, was ein permanentes Nachjustieren der Tests erforderte, damit der erwünschte Durchschnittswert von 100 Punkten erhalten blieb.
Nutzen der Zahlen im tatsächlichen Leben bleibt unklar
Zurückgerechnet hätten unsere Vorfahren nach Flynn um 1900 in einem jetzt gängigen Test nur 50 bis 70 Punkte erreicht, bekämen also eine geistige Behinderung attestiert. Der amerikanische Wissenschaftsautor Steven Jones glaubt sogar, die Komplexität von Fernsehserien und Computerspielen sowie die immer schnelleren Schnitte von Filmen trainierten das Gehirn, während Flynn vermaß, daß Jugendliche visuelle und logische Aufgaben zwar besser lösten, aber bei sprachlichen Aufgaben versagten.
Kinder, die vor Bildschirmen aufwachsen, verstünden flink mit Bildern und Symbolen umzugehen, orientierten sich räumlich besser und veranschaulichten geschickt Sachverhalte. Diese visuelle Kompetenz ist durchaus gefragt, beispielsweise in der modernen Chirurgie, die über Bildschirme operiert. Die Psychologin Patricia Greenfield wendet dagegen ein, die neuen visuellen Fähigkeiten könnten Reflexion, induktive Analyse, kritisches Denken und Phantasie nicht ersetzen. Außerdem darf man wohl fragen, ob ein Kind, das naturnah aufwuchs und beim Bauen und Basteln seine Erfahrungen sammelte, nicht all das sowieso besser kann als die Dauerzocker am PC.
Neben allen möglichen hergezählten psychologischen Gründen gibt ein paar wenige sehr simple, welche die zunehmende Häufigkeit bzw. eher Auffälligkeit von Hochbegabung erklären. Zu allererst ein Zeitgeist, der ganz marktwirtschaftlich meint, alles quantifizieren zu können: Mein Konto ist sechsstellig, mein Rover bringt 250 PS, mein Bodymaß-Index liegt unter 25, meine Frau hat die Optimalsilhouette 90-60-90, und bei meinem Sohn wurde IQ 146 diagnostiziert. Diagnostiziert! Aber unklar bleibt, was mit all diesen Zahlen tatsächlich im Leben anzufangen ist.
Zustand kulturellen Verdämmerns
Zunächst werkstattlich gedacht: Selbst ein hervorragendes Betriebssystem muß auch starten können, bedarf eines Antriebs, einer Initialzündung und der Software, die auf ihm läuft. Aber allein technisch ist die Sache nicht darstellbar. Ebenso wie – korrelierend mit dem Komplex „Hochbegabung“ – gegenüber dem in höchster Mode stehenden Gedächtnissport zu fragen wäre: Ist es tatsächlich sinnvoll, das Telefonbuch der eigenen Großgemeine über allerlei assoziative Brücken im Kopf zu haben und die der Kapazität eines Datenträgers entsprechende Merkfähigkeit in einschlägigen Shows als Attraktion vorführen zu können, oder sollte man doch eher Cello oder Schach zu spielen oder Tschechow im Original lesen?
Wo alles quantifiziert wird, soll kaum mehr qualifiziert werden. Nach Oswald Spengler das symptomatische Zeichen einer Zivilisation im Zustand kulturellen Verdämmerns.
Ein weiterer Grund für die Hochzahl neuer Hochbegabungen: Insofern die Anforderungen in der Grundschule tendenziell gesenkt werden, spielerischem Lernen der Vorzug eingeräumt ist und die Grundschulzeit bis in eine „Orientierungsstufe“ der Klassen fünf und sechs ausgedehnt wird, insofern gleichzeitig auf Leistungsstimulanz, also Bewertungen und Zensierungen, weitgehend verzichtet werden soll, fällt ganz von selbst eine natürliche Konstante von Leistungsfähigen auf, die von dieser vermeintlich kindgerechten Schule unterfordert sind und sich innerhalb des betreuten, bespielten und bespaßten Durchschnitts langweilen oder gar drängend zu stören beginnen.
Durchgefördertes Mittelmaß
Sie gelten schnell als hochbegabt. Insbesondere dann, wenn sie gleichzeitig eine nachzuweisende Verhaltensauffälligkeit zeigen. Eltern und Lehrer fühlen sich dadurch entlastet: Er ist ja verhaltensauffällig, gerade weil er hochbegabt ist. Fluch und Segen des jungen Überfliegers eng beieinander, Zeugnis seines eigenwilligen Charakters. Man weiß ja: Wahnsinn und Genie…
Ähnliches gilt für die Gymnasien, die sich mittlerweile im Wortsinn zu den eigentlichen Haupt-Schulen entwickelten, da sich weit über die Hälfte aller Schüler dort sammeln. Der eigentlich Talentierte findet sich also umgeben von einem durchgeförderten Mittelmaß und bedarf besonderer Anregung, während der Rest schon mit den unterrichtlichen Mindeststandards ringt und sich dabei von empfundenen Überforderungen „gestreßt“ fühlt.
Tatsächlich erlebt man an den modernen Gymnasien bereits die gesamte Bandbreite psychosomatischer Leiden. In der Wahrnehmung von Lehrern und Eltern müssen so die ca. fünf Prozent Leistungsfähigsten, die sich in der Gesellschaft von immer mehr Minimalisten, Desinteressierten und Überforderten befinden, ganz natürlich als um so begabter auffallen. Vor allem, wenn sie eine bereits anachronistisch wirkende Haltung entwickelt habe, die sie Anforderungen aushalten läßt, angesichts derer andere aufgeben, um lieber zu „chillen“, anstatt die mangelnde intellektuelle Belastbarkeit schmerzlich auszutesten.
Vertiefung statt Verbreiterung
Denn neuerdings gilt man bereits mit dem Eintritt ins Gymnasium quasi automatisch als Abiturient, nicht erst mit dem späteren Abschluß. Man fühlt sich befähigt, schon weil man doch in der höheren Schulbildung – meist per Elternentscheid – physisch angekommen ist. Immerhin sind die anderen ja anderswo.
Den sprachlich und intellektuell Hochbegabten innerhalb meiner Fächer war durch mich innerhalb des Systems Schule kaum zu helfen, sondern nur trotz dessen und teilweise direkt entgegengesetzt. Ich mußte sie außerhalb des Programms anzuregen versuchen und ihnen das Material, dessen sie bedurften, selbst zukommen lassen. Zeit, Gespräch, Begleitung, gemeinsame Spaziergänge, idealerweise gemeinsame Lektüre, das weckte den Geist. Meist zu Themen, die im Gros kaum Interesse finden, ja, auch zu solchen, die mittlerweile schon wieder im Giftschrank stehen.
Vertiefung statt Verbreiterung, die Entwicklung des Mutes und der Lust, einen Gedanken auch mal anders zu fassen oder zu verfeinern. Alles abseits einer Schule, die damit wirbt, Erkenntnisse seien allein spielerisch und freudvoll zu erwerben, und der der Gedanken, daß sich echte Anstrengung genießen läßt, ebenso fremd ist wie die Tatsache, daß hartes Training einen an die Grenzen führen sollte. „Kompetenztraining“ ist wertlos, wenn es nicht an spannenden Inhalten mit Substanz erfolgt.
Jugend braucht Erlebnis und Bewährung
Letztlich: Für manches Talent ist die Schule naturgemäß überhaupt kein Ort, schon gar nicht die jeden umklammernde und abschirmende Ganztagsschule, denn die Herausforderungen sind – wie das Leben – anderswo und hinter Glas allzu Reizarm. Der vielfach beschworene Projektunterricht bleibt Modell, Erkenntnis bedarf leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Echten. Jugend braucht Erlebnis und Bewährung, verbunden mit der Übernahme von Verantwortung! Wo Amplituden und Puls immer flacher werden, muß die Anregung stark sein. Sonst fließt kein Strom.
Aus politischen Gründen soll jedoch Leistung über Auswahl, gar Selektion gänzlich ausgeschlossen werden. Schon allein des übel konnotierten Begriffs wegen. Das Gegenteil muß der Fall sein: Inklusion! Von jedem. Im Einklang mit dem Bedürfnis, ein Anspruchsdenken, das laue Mediokrität kritisiert oder hohe Forderungen stellt, als empfindlich treffenden Diskriminierung zu schmähen.
Mißerfolge möglichst ausschließen, indem man sie als Kränkungen und Traumata darstellt! Das ist fatal, denn das Scheitern an Herausforderungen gehört zu den wichtigsten biographischen Erfahrungen, zumal sie schulisch im geschützten Raum stattfinden und sich die Gescheiterten pädagogischen gehalten und von den Euphemismen der nächsten Beurteilung getröstet fühlen dürfen.
Fehlende Anstrengungsbereitschaft
Statt dessen wird aus dem Gymnasium am Ende entlassen, was zu Beginn politisch gewollt – mehr Abi, mehr Jobs! – hineingewunken wurde. Allesamt als studierfähig zertifiziert. Mit der Folge, daß die Freude über den Erfolg oft genug nur den Sommer nach der Prüfung anhält und gerade so für einen Heckscheibenaufkleber ausreicht. Denn über zwanzig Prozent der Studierenden brechen ab.
Die Statistiken benennen allerlei Gründe: falsche Fachwahl, falsche Studienvorstellung, Motivationsprobleme, Distanzierung vom gewählten Fach, familiäre und finanzielle Probleme, Prüfungsängste. Nur diese nicht – mangelnde Begabung und fehlende Anstrengungsbereitschaft zur Selbstüberwindung. Denn jeder ist aus einer gesellschaftlich grundvereinbarten Anthropologie heraus als Talent anzusprechen, und der Abbrecher sieht sich nicht an Anforderungen gescheitert, sondern wiederum gut aufgehoben in prominenter Gesellschaft. Immerhin kamen auch Bill Gates, Mark Zuckerberg und Reinhard Bütikofer ohne einen Hochschulabschluß zurecht.