Der Roman „Nackt unter Wölfen“ aus dem Jahr 1958 war das antifaschistische Heldenepos des damals noch jungen SED-Staats. Es ist die Geschichte des Warschauer Juden Zacharias Jankowski, der in Wirklichkeit Zacharias Zweig hieß und der im März 1945 seinen dreijährigen Sohn Stefan Jerzy Zweig in einem Koffer ins Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar schmuggelt. Rund vier Wochen später, am 11. April 1945, wird das Lager von amerikanischen Truppen befreit, das Kind ist gerettet.
Der Roman hatte unter DDR-Lesern einen vom Mitteldeutschen Verlag in Halle kaum voraussehbaren Erfolg. Die vierte Auflage, so begehrt war das Buch, war bereits vorbestellt und somit bei den Buchhandlungen verkauft, bevor die dritte vom Verlag überhaupt ausgeliefert werden konnte. Im Jahr 1960, als das Buch vom Berliner Aufbau-Verlag übernommen worden war, wurde der Roman vom DDR-Fernsehen verfilmt und in den neunten und zehnten Klassen der DDR-Schulen zur Pflichtlektüre erklärt.
Ein einwandfrei proletarischer Lebenslauf
Noch vor dem Mauerbau 1961 erfolgte die Übernahme als Taschenbuch durch den Rowohlt-Verlag in Reinbek bei Hamburg. Der Roman wurde bis zum Mauerfall 1989 in dreißig Sprachen übersetzt und erreichte allein in deutscher Sprache eine Auflage von zwei Millionen Exemplaren. Der Defa-Film „Nackt unter Wölfen“ wurde 1963 uraufgeführt, die Rolle des kommunistischen Lagerältesten Walter Krämer spielte der beliebte DDR-Schauspieler Erwin Geschonneck, geboren in Bartenstein/Ostpreußen.
Der einwandfrei proletarische Lebenslauf und die kommunistische Überzeugung des Autors haben für den überraschenden Erfolg von Buch und Film zweifellos eine wichtige Rolle gespielt. Bruno Apitz wurde am 28. April 1900 in Leipzig-Volkmarsdorf als zwölftes Kind eines Wachstuchdruckers und einer Waschfrau geboren, er wurde 1914 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend und erlernte den Beruf eines Stempelschneiders. Er wurde 1918 wegen „Landesverrats“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, wurde 1919 Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands und 1927 der Kommunistischen Partei Deutschlands.
In dieser Zeit begann er auch zu schreiben und trat der Leipziger Bezirksgruppe des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller bei. Nach Hitlers „Machtergreifung“, am 17. Mai 1933, wurde er als KPD-Funktionär verhaftet und verschwand für ein Vierteljahr in den Konzentrationslagern Colditz und Sachsenburg, die zweite Inhaftierung erfolgte im November 1934 und brachte ihn wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ ins Zuchthaus Waldheim in Sachsen, von dort wurde er am 4. November 1937 ins Konzentrationslager Buchenwald überführt.
Die Selbstbefreiung des Lagers ist ein Mythos
Das Konzentrationslager auf dem Ettersberg bei Weimar wurde im Juli 1937 errichtet und blieb bis zum Kriegsende in Betrieb. In den Wochen davor versuchten die SS-Bewacher, das Lager zu räumen und schickten 28.000 Häftlinge auf Todesmärsche; 21.000 Häftlinge, darunter 900 Kinder und Jugendliche, verblieben in Buchenwald. Bevor amerikanische Panzereinheiten am 11. April 1945 das Lager erreichten, waren Teile der SS-Mannschaft in die umliegenden Wälder geflohen, einige wenige SS-Leute konnten von den Häftlingen festgenommen werden.
Die Selbstbefreiung des Lagers vor Ankunft der amerikanischen Truppen ist eine kommunistische Legende, die später von SED-Historikern zum „Buchenwald-Mythos“ stilisiert wurde. Dazu hat die Berliner Historikerin Annette Leo in den Dachauer Heften 2006 den ausgezeichneten Aufsatz „Mythos und Realität“ veröffentlicht.
Obwohl die Sowjetische Militäradministration schon im Juli 1949, also noch vor DDR-Gründung am 7. Oktober, der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ empfohlen hatte, in Buchenwald ein antifaschistisches Nationalmuseum einzurichten, verfolgte das ZK der SED ganz andere Pläne und beschloß am 9. Oktober 1950, das Konzentrationslager Buchenwald einzuebnen. Verschont werden sollten nur das Krematorium, wo der im KZ umgekommene Kommunistenführer Ernst Thälmann (1886–1944) verbrannt wurde, das Torgebäude mit der Inschrift „Jedem das Seine“ sowie West- und Ostturm des Lagers.
Ein staatlich verordnetes Geschichtsbild
Der ehemalige Buchenwald-Häftling und SED-Funktionär Robert Siewert rechtfertigte dieses Vorgehen 1952 so: „Das Wesen (des Konzentrationslagers) war die tiefe Kameradschaft, die gegenseitige Hilfe, verbunden und gestählt durch den Kampf gegen den faschistischen Terror, der organisierte Widerstand und der tiefe Glaube an den Sieg unserer gerechten Sache.“ Mit der Vernichtung des Lagers und der nachträglichen Ideologisierung dieses ungeheuerlichen Vorgangs durch einen Ex-Häftling beginnt die SED-Geschichtspolitik um Buchenwald, die sie mit den Schlagworten „antifaschistischer Widerstand“ und „Selbstbefreiung der Häftlinge“ betrieb.
Mit diesem staatlich verordneten Geschichtsbild wurde schließlich am 14. September 1958 die „Nationale Forschungs- und Gedenkstätte Buchenwald“ eingeweiht. In Wirklichkeit standen hinter diesem in Ost-Berlin sanktionierten Geschichtsbild heftige Machtkämpfe dreier kommunistischer Gruppen mit unterschiedlichen Erfahrungen in den Jahren 1933/45, die von den Moskau-Emigranten unter Führung Walter Ulbrichts siegreich entschieden wurden.
Schon die Mexiko-Emigranten, zu denen immerhin so angesehene Schriftsteller wie Ludwig Renn, Anna Seghers und Bodo Uhse zählten, waren nach der Rückkehr aus dem Westexil argwöhnisch wegen „ideologischer Abweichungen“ beobachtet worden. Paul Merker schließlich, führender Kopf der „Mexikaner“ und Gegner Walter Ulbrichts, war 1952 verhaftet und 1955 als „zionistischer Agent“ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Auf ähnliche Weise gingen in jenen Jahren die Moskau-Emigranten auch gegen das kommunistische Lagerkomitee in Buchenwald vor.
Deutungshoheit lag bei Walter Ulbricht und seinen Leuten
Wer heute das Konzentrationslager Buchenwald besucht, stößt auf ein abseits stehendes Museum, in dem die Geschichte Buchenwalds nach 1945 dokumentiert ist. In einem Raum sind auch auf Schautafeln die Lebensläufe von sechs kommunistischen Funktionshäftlingen zu finden, die 1950/51 zunächst vor der „Parteikontrollkommission“ ihr „parteischädigendes“ Verhalten in Buchenwald zu rechtfertigen hatten, dann ihrer Ämter enthoben und politisch kaltgestellt wurden. Zwei von ihnen, Albert Busse und Erich Reschke, wurden noch bedeutend härter bestraft: Sie wurden 1950 vom KGB verhaftet, als „Kriegsverbrecher“ zu lebenslanger Haft verurteilt und nach Workuta ans Eismeer verbracht. Dort starb Albert Busse 1952 mit 55 Jahren an Erschöpfung, Erich Reschke durfte 1955 als gebrochener Mann zurückkehren.
Als Bruno Apitz, der seit 1952 in Ost-Berlin lebte, seinen Roman 1955 zu schreiben begann (beendet wurde er im Oktober 1957), waren seine Buchenwalder Genossen vom illegalen Lagerkomitee längst entmachtet, und die Deutungshoheit über den „antifaschistischen Widerstand“ im Lager war auf Walter Ulbricht und seine Leute übergegangen. Der Roman „Nackt unter Wölfen“, der unter dem Diktat geschrieben wurde, aus dieser Deutungshoheit nicht auszubrechen, wurde zum Instrument der SED-Geschichtspolitik. Die hymnenhaften Interpretationen durch die DDR-Germanistik im „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ (1972), im „Romanführer“ (1974) und in der „Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik“ (1976) zeigen das überdeutlich.
Illegales Lagerkomitee kontrollierte sogar die Todeslisten
Der Autor, der mit seinen Buchenwalder Leidensgefährten in ständiger Verbindung stand, wußte, daß er die entmachteten Genossen nicht als Widerstandshelden darstellen durfte. Also unterwarf er sich, seit 1946 SED-Mitglied, strenger Selbstzensur. Denn die Rettung des eingeschmuggelten Kindes (ein in der Schilderung durch Bruno Apitz übrigens kaum nachvollziehbarer Vorgang!) widersprach jeder Parteidisziplin, weil die Aufdeckung der illegalen Arbeit und ihrer Drahtzieher befürchtet werden mußte. Der Jenaer Soziologe Lutz Niethammer hat in seinem Buch „Der ‘gesäuberte’ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald“ (1994) nachgewiesen, daß das illegale Lagerkomitee sogar die Möglichkeit hatte, Namen aus den Todeslisten der in die Vernichtungslager gehenden Transporte zu streichen und durch andere zu ersetzen.
Jetzt ist im Berliner Aufbau-Verlag eine „erweiterte Neuausgabe“ (586 Seiten statt 409) des Buches erschienen, herausgegeben von Lektorin Angela Drescher und von Susanne Hantke, die über das Schicksal des Romans ihre Dissertation geschrieben und ein umfangreiches Nachwort verfaßt hat. Hier erfährt man auch, daß der „bürgerliche“ Lektor des Manuskripts im Mitteldeutschen Verlag in Halle damals Martin Gregor-Dellin war, der 1958 „Republikflucht“ beging und 1987 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Ich war Walter Ulbricht“ über seine Begegnungen mit Bruno Apitz berichtet hat.
JF 15/12