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Beim Lesen Nietzsches

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Beim Lesen Nietzsches

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Wenn man heute Nietzsche liest, hat man ein Gefühl, als läge man mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke. Erstaunlich, daß Bücher immer noch oder wieder provokant und verstörend sein können – im „postmodernen“ Klima der Neunziger herrschte an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten noch die müde Haltung vor, daß alles schon tausendmal gesagt worden sei und Texte eigentlich nur auf andere Texte verwiesen.

Fünfzehn Jahre später diskutieren unbestellte Vormünder darüber, welche Thesen der Öffentlichkeit „zugemutet“ werden dürfen, lesen wir selbst oft mehr zwischen als in den Zeilen und empfinden ein Buch wie Sarrazins Bestseller, der nur beschreibt, was ohnehin jeder weiß, als „Tabubruch“.

Was ist dagegen erst Nietzsches „Umwertung aller Werte“? Zu seiner Zeit war der Philosoph ein Außenseiter – heute erscheint er undenkbar und ist deswegen längst Geschichte?

Sklavenmoral auf der Grundlage von Ressentiments

Die herrschende, vom Judentum begründete und durch das Christentum universalisierte Moral sei „Sklavenmoral“, die auf dem Ressentiment der „Schlechtweggekommenen“, „Mißratenen“ und „Minderwertigen“ – die freilich immer die große Zahl und den Durchschnitt bildeten – beruhen würde; ihre Grundgedanken – Nächstenliebe, Mitleid, Solidarität – orientierten sich stets an den Bedürfnissen des „Pöbels“, der aus Neid auf die Glücklicheren immer nach Gleichheit verlange. Am Ende degeneriere nicht nur die Gesellschaft, sondern der Mensch überhaupt; dem „letzten Menschen“ sei jede Form eines höheren, sich nicht in Bequemlichkeit und banalem Nutzen behagenden Lebens unverständlich.

Soweit mag Nietzsche Recht haben; das Ziel der Gleichheit – erst vor dem Gesetz, dann der privaten Verhältnisse, die nicht mehr privat sein dürfen, schließlich als letzte Utopie die Leugnung der Natur und ihrer „Ungerechtigkeiten“ – steht am Horizont aller modernen Gesellschaftsentwürfe und beherrscht nach dem Absterben des „real existierenden“ (besser: „explizit sich so nennenden“) Sozialismus die Quoten-, Gleichstellungs- und Gender-Debatten, bei denen es nicht mehr um das „ob“, sondern nur noch um das „wie“ geht.

Herrenmoral führt in die Selbstentwertung

Größeres Kopfzerbrechen bereitet das Gegenmodell, die „Herrenmoral“: Stolz und Hochgestimmtheit der vom Leben Begünstigten, die – immer nur wenige – das Glück und die Lasten aller großen Schöpfungen der Politik wie der Kultur trügen. Wenn solche Herren zuweilen Gutes im Sinne der Dürftiggestellten tun, dann aus überschäumender Freude, die sich am Schenken selbst erlabe und gegen den Beschenkten gleichgültig bleibe; nach unten träten sie, je nach Gutdünken, gnädig oder hartherzig auf, nach außen, gegenüber Fremden und Feinden, als „blonde Bestien“ und „Raubmenschen“.

Sie seien es, die eigentlich Werte schüfen – die Grunddifferenz ihrer Ethik sei die von „vornehm“ und „gering“ –, und erst sekundär würden ihre „gesunden“, durch strenge Zucht und Auslese verinnerlichten Wertvorstellungen von den „Sklaven“ umgedeutet. Deren höchste Werte – an der Spitze Gott als in metaphysische Sphären projizierter Garant jeder Ordnung von „gut“ und „böse“, „wahr“ und „falsch“ – hätten sich nun „selbst entwertet“. Anders gesagt: Das System destabilisiert sich, indem die göttlich gebotene Wahrhaftigkeit des Erkennens zu dem Ergebnis führt, daß Gott „tot“ ist.

Nietzsches Paradoxien

Hier beginnen die Widersprüche: Paradoxerweise haben die angeblich Schlechtweggekommenen die Natur gegen sich, die große Zahl aber immer auf ihrer Seite – die Natur produziert ihre Ungleichheiten offenbar als Ausnahmen, die Gleichartigkeit des Durchschnitts jedoch in Massen. Warum soll das Herausragende aber der eigentliche Ausdruck des Lebens und seines Willens zur Macht sein, wenn es stets vom Massenhaften bedroht ist? Resultiert die Bevorzugung des Seltenen vor dem Häufigen, der Qualität vor der Quantität, nicht eher auf Vorentscheidungen Nietzsches, seinem Ästhetizismus und seiner Antike-Begeisterung? Und kann die Linie zwischen Adel und Pöbel wirklich so klar gezogen werden?

Verräterisch ist Nietzsche Begeisterung für Napoleon, der – sowohl den antiken Cäsaren als auch den Diktatoren des 20. Jahrhunderts vergleichbar – durchaus ein Exponent der Massen und Wegbereiter der Massengesellschaft war. Und wenn wir nun die Gretchenfrage nach Nietzsche und dem Nationalsozialismus stellen: Er hätte ihn abgelehnt, aber nur weil er für ihn eine große demokratisch-sozialistische Pöbelei gewesen wäre.

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