Zu den Folgen der Ganztagsverwahrung von Kindern kamen mir gestern aus ein und derselben Zeitung zwei Zeitungsartikel auf den Tisch, deren Aussagen nicht unterschiedlicher hätten sein können. Zunächst ärgerte ich mich über die Propagandaschlagzeile im Politikteil meines Fränkischen Tags (FT). „Ganztagsschule steht für ‚Lernfreude und Motivation‘“, so war der Beitrag (Seite 5) betitelt – ein unverhohlener Angriff gegen den Einfluß des Elternhauses auf die Kindererziehung. Ein paar Seiten weiter stieß ich dann auf die folgende Überschrift: „‚Voller Arbeitstag von der Kinderkrippe an’ – Kinder und Jugendliche haben immer häufiger mit Problemen wie Depression, Angst und Hyperaktivität zu kämpfen“ (Seite 17). Ja, was denn nun? Werden die Kinder in Ganztagseinrichtungen nun glücklich oder schwermütig?
Wirtschaftspolitiker gegen Kinderrechtler
Verständlich wird dieser Widerspruch erst, wenn man sich ansieht, wer diese Schlagzeilen verursacht hat. Im ersten Fall geht es um die Ergebnisse einer Studie, die Bundesbildungsministerin Annette Schavan am Donnerstag vorgestellt hat. Im zweiten Fall wurde Gunther Moll befragt, der Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen-Nürnberg. Wir haben es also auf der einen Seite mit einer Institution zu tun, die seit der rot-grünen Regierungszeit aus politischen und wirtschaftlichen Interessen massiv den Ausbau von Ganztagsschulen betreibt. Für das Programm „Zukunft Bildung und Betreuung“ hat das Ministerium zwischen 2003 und 2009 vier Milliarden Euro unseres Geldes ausgegeben. Auf der anderen Seite steht ein Anwalt von Kindern, der sich seit langem mit einem „Kinderkanon“ für eine Politik stark macht, die die Frage in den Mittelpunkt rückt, was das beste für die Kinder ist.
Züchtung von Leistungserbringern und Konsumenten
Auf Seite 5 im Bericht über die Verlautbarung des Ministeriums lese ich folglich: „Schüler von Ganztagsschulen haben mehr Spaß an der Schule: Ihre Lernfreude und Motivation wachsen. Die Kinder sind weniger aggressiv und störend im Unterricht … Das Familienklima und gemeinsame Aktivitäten leiden nicht darunter, wenn die Kinder auch nachmittags in der Schule sind – was Kritiker dieser Schulreform befürchtet hatten.“ Diese Befürchtungen seien sogar „klar widerlegt“, heißt es in der Studie.
Moll meint hingegen auf Seite 17: „Staat und Wirtschaft arbeiten am ‚perfekten Staatsbürger‘, Leistungserbringer und Konsumenten. Ein voller Arbeitstag schon von der Kinderkrippe an. … Ganztagskindergarten mit unsinniger Frühpädagogik und Ganztagsschule mit übervollen und überholten Lehrplänen.“ Die Folge seien „Störungen im Gefühlsleben, insbesondere Angststörungen und Depressionen.“ Moll fordert deswegen in seinem „Kinderkanon“: „Die politischen Rahmenbedingungen müssen … dazu führen, daß eine ‚Vollzeitfamilie‘ als die wertvollste gesellschaftliche Ressource erkannt, belohnt und bewertet wird, sowie die ‚Kinderzeit‘ als natürlicher Abschnitt im Leben, sowie als Quelle eigener Zufriedenheit und Erfüllung empfunden wird.“ Mit der Bezeichnung „Kinderzeit“ statt „Elternzeit“ setzt Moll ganz bewußt auf einen anderen Blickwinkel. Drohen doch die Interessen der Kinder – das heißt die Förderung ihrer bestmöglichen Entwicklung – zwischen den Egoismen von Politik, Wirtschaft und sich selbstverwirklichenden Erwachsenen zerrieben zu werden.
„Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation“
Der FT-Redakteur Thomas Lange wundert sich in einem Kommentar über die Studie des Ministeriums: „Nun also sollen wir glauben, was wir nie so recht glauben wollten: Kinder gehen gern zur Schule, und zwar am liebsten ganztags.“ Erich Kästner hat in seiner „Ansprache zum Schulbeginn“ die rechte Bemerkung dazu gefunden: „Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müßt ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken wird man euch ab morgen! Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation – das ist der Weg, der vor euch liegt.“ Gibt es tatsächlich keinen anderen Weg?